1997: Als Ullrich die Tour de France gewann

Stand: 01.07.2022 10:00 Uhr

1997 gewinnt Jan Ullrich als erster Deutscher die Tour de France und wird in seiner Heimat zum Sportidol. Viel geblieben ist vom Ruhm nicht. Im Doping-verseuchten Radsport der 1990er-Jahre spielte auch der gebürtige Rostocker eine unrühmliche Rolle.

von Sebastian Ragoß

Die deutschen Sportfans verfolgen vor 25 Jahren gebannt, wie Jan Ullrich vom Edelhelfer zum Favoriten wird und letztlich die Konkurrenz in Grund und Boden fährt. Ein Rückblick auf den "gelben" 1997.

Andorra Arcalis, 15. Juli 1997: Ullrich stürmt auf der zehnten Etappe der Tour de France zum Tagessieg und ins Gelbe Trikot. Zwei Wochen später gewinnt er als erster und bislang einziger Deutscher die Frankreich-Rundfahrt. "Das war ein ganz wichtiger Moment des deutschen Sports", sagt ARD-Radsportexperte Florian Naß.

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Rad-Profi Jan Ullrich bei der Tour der France 1997 © imago images / Reporters

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"Doping hat dazugehört zur Tour de France 1997"

Geblieben ist Ullrich vom Ruhm fast nichts. Es gibt erdrückende Indizien, dass er wie fast alle anderen Spitzenfahrer gedopt hat. Zahlreiche Teamkollegen von damals haben den Gebrauch unerlaubter Mittel gestanden. Ullrich konnte sich bis heute nicht dazu durchringen, ein Dopingvergehen einzuräumen.

Trotzdem zweifelt so gut wie niemand daran, dass neben seinem außergewöhnlichen Talent auch verbotene Leistungsbeschleuniger bei seinen Erfolgen im Spiel waren. "Doping hat dazugehört zur Tour de France 1997 und ist nicht wegzudiskutieren", betont Ullrichs ehemaliger Teamkollege Udo Bölts, ohne den Rostocker konkret zu erwähnen.

Zweiter beim Tour-Debüt 1996

Doch 1997 sind Zweifel und Verdächtigungen der großen Mehrheit fremd. Sie sehen, wie der damals 23-Jährige vom Edelhelfer für seinen Kapitän und Vorjahressieger Bjarne Riis (Dänemark) zum dominierenden Fahrer der Frankreich-Rundfahrt wird. Überraschend kommt diese Entwicklung indes nicht: Ullrich war bei seinem Tour-Debüt 1996 vollkommen unerwartet Zweiter geworden. "Hätte man ihn taktisch nicht geopfert, was richtig war zu der Zeit, dann hätte er auch 1996 die Tour gewonnen", glaubt der damalige Telekom-Teamkollege Rolf Aldag.

An der Rollenverteilung zwischen Riis, der später Doping bei seinem Tour-Sieg zugibt, und Ullrich soll sich auch 1997 nichts ändern. "Eigentlich war klar: Bjarne Riis ist wieder der Kapitän und Jan Ullrich ist der Fahrer der Zukunft. Aber wie sich das entwickeln würde, das konnte man vor der Tour de France nicht sagen", erinnert sich Bölts.

Riis zeigt Schwächen in den Pyrenäen

Ullrich deutet als Zweiter beim Prolog bereits an, dass er Riis im teaminternen Duell gefährlich werden kann. Auf der ersten Etappe teilt ein Sturz das Peloton. Der deutsche Herausforderer kommt fast eine Minute vor dem Dänen ins Ziel.

Jan Ullrich © picture alliance Foto: picture alliance
Teaminterne Rivalen: Jan Ullrich (l.) und Bjarne Riis.

An der Rollenverteilung ändert dies jedoch zunächst nichts, was auch am Selbstverständnis des Titelverteidigers liegt. "Bjarne Riis ist ein Egoist gewesen. Der hat eine klare Führungsrolle für sich beansprucht", so Naß.

Doch dann geht es ins Hochgebirge. Auf dem neunten Teilstück nach Loudenvielle hat Riis für alle deutlich sichtbar Probleme. Ullrich hätte wohl schon das Gelbe Trikot erobern können, er bleibt aber solange es geht an der Seite seines Kapitäns. Erst am Ende der Etappe zieht er das Tempo an und kommt eine gute halbe Minute vor Riis ins Ziel.

Legendärer Sieg in Andorra Arcalis

Einen Tag später folgt die "Königsetappe" von Luchon nach Andorra Arcalis: 252 Kilometer durch die Pyrenäen. Ullrich macht einen extrem starken Eindruck, während bei Riis erneut Schwächen zu erkennen sind. Die Teamleitung muss eine Entscheidung treffen. Sie gibt grünes Licht für einen Führungswechsel.

Ullrich tritt aus der Gruppe der Favoriten an - und keiner kann folgen: Weder Riis noch Marco Pantani noch Richard Virenque. Fast in Zeitfahrposition fährt Ullrich den steilen Anstieg herauf. "Ich fand es einfach super beeindruckend", so Teamkollege Aldag. "Er erhob sich nur ein einziges Mal aus dem Sattel, und die Spitzengruppe explodierte", schrieb die L'Equipe. Nach 7:45 Stunden kommt Ullrich als Etappensieger ins Ziel, das Gelbe Trikot erobert er auch. Obwohl die Tour noch nicht einmal zur Hälfte gefahren ist, hat Deutschland einen neuen Sportstar.

Zeitfahr-Erfolg mit großem Vorsprung

Und der Rostocker bricht unter der Last des Gelben Trikots nicht zusammen, im Gegenteil: Drei Tage nach dem Sieg in Andorra steht das erste Zeitfahren an, Ullrichs Spezialdisziplin. Wie entfesselt fährt der 23-Jährige. Ullrich holt sogar den drei Minuten vor ihm gestarteten Virenque ein und feiert seinen zweiten Tagessieg. In der Gesamtwertung hat er nun 5:42 Minuten Vorsprung auf den Franzosen. Riis als Vierter liegt bereits 8:01 Minuten zurück.

Ullrich zieht Abermillionen Deutsche vor die Fernseher. Und in der Schlusswoche pilgern Zehntausende ins Elsass, um ihn an der Strecke zu sehen. Reporter-Legende Herbert Watterott erinnert sich an die Hysterie um den neuen Stern am Radsporthimmel: "Es war fast wie 1954, als Deutschland Fußball-Weltmeister wurde."

Bölts zu Ullrich: "Quäl Dich, Du Sau!"

Ullrich bleibt souverän vorne, nur einmal kommt er noch ein wenig in Bedrängnis. Auf der 18. Etappe bläst Virenques Mannschaft Festina zum Großangriff. Der Mann im Gelben Trikot ist gesundheitlich ein wenig angeschlagen. Edelhelfer Bölts ruft ihm die legendären Worte "Quäl Dich, Du Sau!" entgegen. Team Telekom wehrt den Angriff ab, drei Tage später kommt Ullrich als Sieger in Paris an.

9:09 Minuten Vorsprung hat Ullrich am Ende auf Virenque. Deutlicher gewann seitdem niemand mehr.

Ullrichs Ruhm ist fast verblasst

Experten erwarten, dass Ullrich über Jahre die Tour dominieren wird. Er gewinnt sie kein einziges weiteres Mal. Häufig scheitert er am König der Betrüger, Lance Armstrong. 2007 endet seine Karriere im Zuge des Fuentes-Skandals unrühmlich. Ullrich verliert massiv an Reputation, auch weil er sich nicht zu einem Doping-Geständnis durchringen kann, anders als etwa Bölts und Aldag.

"Wir Fahrer von damals tragen den Rucksack des Doping-Täters", sagt Bölts. In den Ergebnislisten der Ullrich-Jahre tauchen reihenweise Dopingsünder auf, auch im Jahr seines größten Triumphes. Alle zehn Erstplatzierten der Tour 1997 werden mit Doping in Zusammenhang gebracht. Dies relativiert auch den aus deutscher Sicht spektakulären Radsport-Sommer 1997.

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 25.07.2020 | 14:00 Uhr

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