Stand: 28.11.2016 09:26 Uhr

Joachim Streich: Der "Gerd Müller des Ostens"

von Andreas Bellinger, NDR.de
Joachim Streich 1974 © imago
Joachim Streich 1974 im DDR-Trikot.

Rekorde für die EwigkeitSeine Rekorde sind tatsächlich für die Ewigkeit. Joachim Streich muss ein bisschen schmunzeln, wenn er von seinen 105 Länderspielen und 59 Toren für die Fußball-Nationalmannschaft der DDR erzählt. Natürlich ist er stolz auf die Karriere hinter diesen Zahlen. Aber wer sollte sie ihm auch streitig machen, wo es die DDR doch nicht mehr gibt? Der "Gerd Müller des Ostens" bleibt unantastbar. Als Spieler war er das über viele Jahre auch in der DDR-Oberliga, mit kleinen Schönheitsfehlern vielleicht, die ihm in der Rückschau aber nicht mehr ganz so wichtig erscheinen.

Falscher Ehrgeiz

Selbst der Tiefschlag nicht, den er im Juni 1974 verdauen musste. Es war wohl die schwärzeste Stunden seiner 16-jährigen Karriere als Fußballer in der DDR, als ihm Auswahl-Trainer Georg Buschner im WM-Quartier in Quickborn bei Hamburg offenbarte, dass er im deutsch-deutschen Duell auf seinen Top-Torjäger verzichten werde. Kein Treffen also mit dem großen Vorbild Gerd Müller. "Ich war selber schuld", sagt Streich und beschreibt im NDR Sportclub nüchtern: "Meine Leistung war nicht so besonders." Streich war mit einer Erkältung ins Turnier gestartet, die er dem Trainer verschwieg, um gleich zum Auftakt gegen Australien spielen zu können.

Ausbootung statt "Klassenkampf"

Im ersten WM-Spiel der DDR überhaupt schoss er sein erstes Tor (ein spektakuläres zumal), doch WM-tauglich war seine Vorstellung weniger. Noch schlimmer missriet ihm sein Auftritt beim 1:1 gegen Chile. Die Ausbootung für das zum "Klassenkampf" stilisierte Spiel im Hamburger Volksparkstadion war nachvollziehbar - auch für den am 13. April 1951 in Wismar geborenen "Fischkopf". Natürlich schmerzt es noch immer ("Ein bisschen jedenfalls"), natürlich hätte er gerne das entscheidende Tor beim 1:0-Sieg der DDR geschossen, aber er missgönnt Jürgen Sparwasser den "legendären Treffer" nicht. Es würde seinem Wesen auch nicht entsprechen.

"Streich ist ein Phänomen"

"Er ist sicherlich eine der schillerndsten Personen des Sports", sagt Buschner, der in 75 Länderspielen Streichs Trainer war. "Achim hat nicht nur viele Tore geschossen, sondern auch erheblich zur Verbesserung der Spielkultur beigetragen. Wenn wir gut gespielt haben, hat er immer maßgeblich dazu beigetragen." Die britische Fachzeitschrift "World Soccer" schrieb unter dem Titel "Dieser Streich ist ein Phänomen" eine Eloge auf den Mittelstürmer, der sich "seit mehr als einem dutzend Jahren gegen härteste Konkurrenz behauptet, trotz Sonderbewachung seine Tore schießt und weiter erfolgreich ist, obwohl das Spiel immer schneller, die Räume stetig enger wurden".

"Bin Stürmer, kein Dauerläufer"

Es gab auch andere Stimmen - natürlich. Doch Streich ließen diese Kommentare scheinbar ungerührt. Die Kritik an seiner Spielweise ("Ich bin Stürmer, kein Dauerläufer"), an seinen langen Haaren ("Ich habe mir keine Fasson schneiden lassen, um den Oberen zu gefallen") und an seiner unaufgeregten, selbstbewussten Art, die Buschner bisweilen als "Leck mich am Arsch"-Haltung wahrnahm. Nur einmal ist er explodiert, als er auf die Nörgelei eines Reporters des DDR-Fernsehens ("Sie stehen zu viel rum auf dem Platz") ebenso nassforsch antwortete: "Kritiker sagen das immer, aber letztendlich zählt die Leistung, und ich glaube doch, dass ich noch immer bei uns der beste Mittelstürmer bin. 45 Tore in 86 Länderspielen sprechen wohl für mich." Solche Sätze waren bis dato unbekannt vom "Wilderer im Strafraum" - seine Reaktion auf dem Platz dagegen weniger: In den folgenden zehn Länderspielen erzielte er acht Treffer.

Wunsch nach einem normalen Leben

Bekanntschaft mit harter Kritik hatte Streich schon am Ende seiner Zeit in Rostock gemacht. "Ich habe in Stralsund den entscheidenden Elfmeter verschossen. Das hat man mir natürlich übel genommen; aber ich hab's nicht mit Absicht gemacht." Doch die Hansa-Fans konnten nicht verzeihen, dass ausgerechnet der treffsichere Streich den Abstieg im Sommer 1975 besiegelt und sich dann in ihren Augen aus dem Staub gemacht hatte.

Genossen lassen Wechsel platzen

Der Makel haftete schwer an Streich, der sogleich den nächsten Rückschlag wegstecken musste, als ihm der schon besiegelte Wechsel nach Jena verwehrt wurde. Alles war geregelt mit Trainer Hans Meyer, der ihn unbedingt zum FC Carl Zeiss holen wollte. Streich: "Ich wurde zum Fußball-Verband zitiert, die Anmeldung zerrissen und der Generalsekretär sagte: 'Schluss, aus, du gehst nach Magdeburg.'" Als er Jahre vorher aus freien Stücken von Wismar nach Rostock gewechselt war, hatten das die obersten Sport-Genossen nicht einmal mitbekommen.

Hungriger Stammspieler

Dabei war der junge Streich hochtalentiert und schon mit 18 Jahren Stammspieler in der Oberliga-Mannschaft der "Hansa-Kogge". Aber eben nicht delegiert und deshalb auch ohne finanzielle Unterstützung. Nicht einmal Essensmarken bekam er im Hansa-Internat. "Glücklicherweise haben mir die Älteren immer mal wieder welche zugesteckt", erzählt Streich, der damals eine Ausbildung zum Schaltanlagenmonteur machte und mit 70 Ostmark im Monat auskommen sollte: "Zum Glück haben mir meine Eltern geholfen."

Erzwungener Wechsel nach Magdeburg

Nach dem erzwungenen Wechsel nach Magdeburg brauchte es eine geraume Zeit, bis sich die Familie Streich - Joachim, Ehefrau Marita und Tochter Nadine - einigermaßen heimisch fühlte. Sportlich gesehen startete der "Stürmer mit der Lizenz zum Toreschießen" beim Europapokalsieger der Landesmeister mit dem Erstrunden-Aus des Titelverteidigers gegen Malmö FF - und wie im letzten Hansa-Spiel verschoss Streich im Herbst 1975 einen Elfmeter. Am Ende der Saison aber schlugen je 13 Treffer für ihn und seinen Freund Sparwasser zu Buche. Bester Torschütze seines Vereins wurde Streich noch neunmal und brachte es in 378 Oberliga-Einsätzen auf 229 Tore. Viermal (1977, 1979, 1981, 1983) wurde er Torschützenkönig der Oberliga und zweimal (1979, 1983) "Fußballer des Jahres".

Im "Club der Hunderter"

Ein Jahr bevor er seine Karriere beendete, stürmte der Nationalspieler Streich im September 1984 in den "Club der Hunderter". Der Rahmen hätte dabei in seinem drittletzten Länderspiel nicht würdevoller sein können. Beim 0:1 gegen England traf Streich zwar nicht, aber das vollbesetzte Londoner Wembleystadion feierte ihn. Englands Kapitän Peter Shilton überreichte ihm einen silbernen Ehrenteller und Streich erinnert sich, wie ihm die Knie zitterten.

Goldene Uhr vom "Kaiser"

Joachim Streich 2004 © dpa Foto: Jens Wolf
Joachim Streich 2004.

Den Teller hütet Streich bis heute. Was durchaus zu erwähnen ist, denn ohne seinen Neffen Mario würden Hunderte von Medaillen, Pokale und Auszeichnungen wohl längst verschwunden, zumindest aber verstaubt sein. Auch die olympische Bronze-Medaille von München 1972, als die DDR den Gastgeber mit Ottmar Hitzfeld und Ulli Hoeneß geschlagen hat. Ein Kellerraum ist mit den Devotionalien geschmückt und im Sportclub erzählt der Hüter der Schätze, dass Streich eines der getauschten Trikots sogar als Arbeitskittel zweckentfremdet habe. Die goldene Armbanduhr, die er beim 50. Geburtstag von Beckenbauer bekommen hat, wird dagegen nur zu besondern Anlässen hervorgeholt. "Sie ist auch Anerkennung meiner Leistung, sonst hätte er das sicher nicht gemacht."

Sehnsucht nach normalem Leben

Als Trainer fand er diese Anerkennung indes nie. Von der Bezirksleitung über Nacht zum Magdeburger Cheftrainer kommandiert, quälte er sich im neuen Job mehr, als dass er Freude oder gar Glück empfand. Auch nach der Wende nicht als erster Ost-Trainer im Westen beim Zweitligisten Eintracht Braunschweig. Es passte nicht und hielt ganze neun Monate. Es folgte ein neuerliches Engagement in Magdeburg, später in Zwickau. "Ich war froh, als es vorbei war. Ich wollte gar nicht im Fußball bleiben. Ich wollte ein normales Leben führen."

Einmal fehlte der Mut

Das normale Leben spielte wohl auch die Hauptrolle, als es 1969 darum ging, in den Westen zu fliehen. Hansa spielte im Messe-Pokal in Athen und zwei seiner Mitspieler weihten ihn in ihre Überlegungen ein. "Letztlich fehlte uns allen aber einfach der Mut", verrät Streich im Interview mit dem Fußball-Magazin "11 Freunde". Als er seine Frau kennenlernte, war das Thema ohnehin passé. Das normale Leben holte er sich schließlich als Repräsentant eines Sportartikelherstellers zurück und auch als Mitarbeiter der Magdeburger Filiale eines Sportgeschäfts. Seit 2016 ist Streich in Rente und spielt nur noch sporadisch bei den "Alten Herren." Die Haare sind kürzer geworden, ein Dauerläufer ist er noch immer nicht. Aber seine Rekorde bleiben für immer und ewig.

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 27.11.2016 | 23:35 Uhr

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