Helmers Phantomtor - ein Bremer Missverständnis

Stand: 23.04.2024 09:53 Uhr

Thomas Helmer erzielte am 23. April 1994 für Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg den berühmtesten Treffer der Bundesliga-Historie. Mittlerweile gibt es ein dank Stefan Kießling ein zweites Phantomtor.

von Florian Neuhauss

Das Wörterbuch definiert den Begriff "Phantom" als Trugbild. Und genau das war es, was Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers und sein Assistent Jörg Jablonski aus Bremen am 23. April 1994 im Münchner Olympiastadion sahen. Bayern-Verteidiger Thomas Helmer versuchte einen halben Meter vor dem Tor der Nürnberger, den Ball über die Linie zu drücken. Doch dem Nationalspieler sprang das Spielgerät von der rechten Wade an die linke, von dort gegen die Hacke und ins Tor-Aus. Jablonski zeigte mit seiner Fahne Tor an und machte sich auf den Weg zur Mittellinie. Schiedsrichter Osmers sah das Signal, gab das vermeintliche 1:0 und so fand das "Phantomtor" Eingang in die Bundesliga-Geschichte.

Jablonski: "99 Prozent hätten die Fahne gehoben"

Das Dilemma: Beide beurteilten unterschiedliche Szenen, denn natürlich sah der Referee, dass der Ball ins Aus trudelte. Als Helmer - praktisch auf der Torlinie stehend - noch mit dem Ball hantierte, dachte Osmers allerdings, das Leder könnte schon drin gewesen sein. Jablonski wiederum hob die Fahne, als er sah, dass der Ball die Linie überquerte.

Thomas Helmer (M.) stochert den Ball am Tor vorbei. © picture alliance / Sven Simon Foto: Sven Simon
AUDIO: Das Phantomtor von Thomas Helmer (3 Min)

"Ich habe mir die Szene noch sehr oft auf Video angesehen und Tausende Fans hinter mir haben die Arme zum Jubel hochgerissen, weil es von der Seite eindeutig nach Tor aussah. 99 Prozent hätten die Fahne gehoben", sagte Jablonski NDR.de. Dass der Ball einen Moment später gegen die Bande kullerte, nahm er nicht mehr wahr.

Mit dem 1:0 ging es in die Pause. "Ich habe Jörg dann noch mal gefragt, ob er sich bei dem Treffer sicher sei", berichtete Osmers. "Aber Jörg meinte nur, ich müsse mir keine Sorgen machen, der sei auf jeden Fall drin gewesen." Doch schon als das Schiedsrichtergespann zur zweiten Halbzeit wieder aufs Feld wollte, sah es auf den Bildschirmen der Journalisten, was ihm da für ein Fehler unterlaufen war. Osmers: "Das war eine Hypothek für die zweiten 45 Minuten."

Osmers war der Ohnmacht nahe

In der zweiten Hälfte kamen die Nürnberger zwar zum zwischenzeitlichen Ausgleich, aber Helmer legte - diesmal regulär - mit einem schönen Treffer aus 16 Metern nach. Kurz vor dem Ende gab es Elfmeter für die Gäste - Verursacher ausgerechnet Helmer. Manni Schwabl legte sich den Ball zurecht. Für Osmers war der fällige Strafstoß "ein Geschenk des Himmels". Der Unparteiische macht keinen Hehl daraus, dass "ich gehofft habe, dass er den Ball reinhaut". Bei einem Remis wäre das "Phantomgegentor" für die Franken sicher zu verkraften gewesen. Doch Bayern-Keeper Raimond Aumann parierte den Elfmeter und der Schiedsrichter war "der Ohnmacht nahe". Der Rekordmeister siegte 2:1 und die Nürnberger legten Protest ein.

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Die Folgen des Phantomtors

Was folgte, war ein Spießrutenlauf für die Schiedsrichter. "Es gab mehrere Morddrohungen", so Osmers: "Bei uns zu Hause fuhr mehrmals täglich ein Streifenwagen vorbei." Bereits drei Tage nach dem falschen Pfiff kam es zur Verhandlung vor dem DFB-Sportgericht in Frankfurt, zu der auch Jablonski und Osmers aus Bremen anreisen mussten. Der DFB entschied auf Wiederholungsspiel - das die Münchner mit 5:0 gewannen. Am Ende der Saison feierte der FCB die deutsche Meisterschaft - mit einem Punkt und drei Toren Vorsprung vor Kaiserslautern. Nürnberg hingegen stieg aufgrund des schlechteren Torverhältnisses gegenüber Freiburg ab.

Jablonski hört auf - Osmers kriegt die Kurve

Während sich Osmers mit starken Leistungen schnell rehabilitierte, war die Fehlentscheidung für Jablonskis Karriere der Anfang vom Ende. Zwar stand er in der folgenden Zweitligasaison noch einige Male an der Linie, die Auftritte als Schiedsrichter in der Dritten Liga raubten ihm aber den letzten Nerv. "Die Zuschauer haben mich zermürbt", sagte er: "Jede meiner Entscheidungen wurde von lauten Rufen in Zweifel gezogen. Das wollte ich mir nicht mehr antun." Jablonski zog einen Schlussstrich.

Und Helmer? Er ist mehrfacher deutscher Meister und Pokalsieger, gewann den UEFA-Pokal, stand im Finale der Champions League und wurde Europameister. "Bei allem, was ich in meinen 17 Profijahren geleistet habe, ist es sehr bitter, dass ich oft auf dieses Tor begrenzt werde", sagte er NDR.de. Zu dem Treffer selbst mag er sich nicht mehr äußern.

Derweil spricht Osmers in aller Lockerheit über den Fehler von damals, hat gelernt, damit umzugehen. Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann musste sich bei Geschäftsterminen schon viele Sprüche anhören. Außerdem wurde er tagtäglich mit Helmer und dem "Phantomtor" konfrontiert. Hinter seinem Schreibtisch im Büro, wo bei anderen Leuten die Familienahnen an der Wand prangen, hing das Foto vom "Phantomtor" an der Wand - im Großformat.

Stefan Kießling und das zweite Phantomtor

Mittlerweile hat die Liga sogar ein zweites Phantomtor: Am 19. Oktober 2013 erzielte Bayer Leverkusens Stürmer Stefan Kießling beim 2:1-Sieg seiner Mannschaft gegen die TSG Hoffenheim 1899 in der 70. Minute das vermeintliche 2:0.

Der Moment, als der Ball von außen durchs Netz fliegt: Stefan Kießlings (l.) Phantomtor im Spiel seiner Leverkusener bei der TSG Hoffenheim 1899. © picture alliance / dpa
Und plötzlich ist er drin: Stefan Kießling (l., Nummer 11) von Bayer Leverkusen erzielt sein Phantomtor im Spiel bei der TSG Hoffenheim 1899.

Das Problem: Kießling hatte den Ball ans Außennetz geköpft, der Ball war von dort wegen eines Loches im Netz ins Tor gekullert. Schiedsrichter Felix Brych gab den Treffer.

Erst wenige Minuten später, als Hoffenheimer Ersatzspieler den Referee auf das Loch im Netz hingewiesen hatten, wurde Brych bewusst, dass der Ball nicht im Tor war. Er blieb jedoch bei seiner Tatsachenentscheidung: "Es hat mir keiner gesagt, dass der Ball nicht im Tor war. Ich hatte leichte Zweifel, aber die Reaktionen der Spieler waren eindeutig, es gab kein Kontra", sagte er damals.

Helmer nimmt Kießling in Schutz

Helmer, selbst ja Phantomtorschütze, nahm Kießling damals in Schutz: "Es geht um Sekunden, und du weißt als Schütze selbst nicht so genau, ob er drin war. Kießling wird auch überlegt haben: Was mach ich jetzt, was ist passiert. Und diese Sekunden entscheiden darüber, bist du jetzt der liebe Junge oder der böse Bube." Die falsche Entscheidung auf Tor sei "nicht nur der Fehler des Spielers, sondern auch der Fehler des Schiedsrichters". Das Spiel müsse wiederholt werden. Doch anders als bei der Partie der Bayern gegen Nürnberg gab es kein Wiederholungsspiel Hoffenheim gegen Leverkusen.

Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 06.04.2020 | 08:25 Uhr

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