Arzt in weißem Kittel und mit Stethoskop schreibt etwa auf ein Blatt in einem Ordner. © imageBROKER/josexhernandez Foto: jose hernandez
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Arzt in weißem Kittel und mit Stethoskop schreibt etwa auf ein Blatt in einem Ordner. © imageBROKER/josexhernandez Foto: jose hernandez
AUDIO: Zentrum für seltene Erkrankung: Hilfe für die, die anderswo durchs Raster fallen (3 Min)

Wie ein Ärzteteam aus Lübeck Menschen mit seltenen Erkrankungen hilft

Stand: 29.02.2024 05:00 Uhr

Der 29. Februar ist der Tag der seltenen Erkrankungen. Er soll auf die vier Millionen Menschen aufmerksam machen, die in Deutschland mit einer seltenen Erkrankung leben. Conni ist einer von ihnen.

von Anne Passow

Unwillkürliche Bewegungen, Probleme beim Sprechen, eine langsame Veränderung der Persönlichkeit - der Prozess ist langsam, aber stetig. Und Conni ist sich nie sicher: Bin das noch ich oder ist das schon die Krankheit? Conni ist an Chorea Huntington erkrankt, einer erblichen Erkrankung des Gehirns, die irgendwann zum Tod führt. Er besucht regelmäßig das Zentrum für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) Lübeck. Hier nimmt er an einer Langzeitstudie teil und wird durchgecheckt. "Ich bespreche hier Themen, die mich gerade angehen. Also so etwas wie: Ich beiße mir oft auf die Zunge oder: Ich habe gemerkt, dass meine Schrift sich verändert hat", berichtet Conni, der nicht mit seinem vollen Namen erwähnt werden möchte. Seine Krankheit heilen können die Spezialisten am Zentrum nicht, aber sie können dem 43-Jährigen medizinische und psychologische Hilfe anbieten.

Seltener Tag für seltene Krankheiten

Seit 2013 gibt es das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am UKSH in Lübeck. Es ist eines von zwei derartig spezialisierten Zentren in Schleswig-Holstein - ein weiteres befindet sich in Kiel. Deutschlandweit gibt es 30 solcher Zentren. Am Tag der seltenen Erkrankungen rücken die ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Begangen wird dieser Tag in diesem Jahr am 29. Februar, bewusst an einem seltenen Tag, der nur alle vier Jahre stattfindet. Am ZSE in Lübeck gibt es an diesem Tag verschiedene Veranstaltungen.

"Wahnsinnig lange Krankheitsverläufe"

"Das Hauptproblem der Patienten hier ist, dass sie wahnsinnig lange Krankheitsverläufe haben. Ich sehe regelmäßig Patienten, die seit der Kindheit Beschwerden haben und jetzt 50 Jahre alt sind - oder älter - und immer noch keine abschließende Diagnose haben", sagt Susanne Hertel. Die Fachärztin für Neurologie ist Teil des interdisziplinären Teams des ZSE in Lübeck. Mit Annekatrin Ripke, Fachärztin für Innere Medizin, und weiteren Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fachbereiche betreut sie Patienten mit seltenen Erkrankungen. Das ZSE in Lübeck ist besonders spezialisiert auf seltene neurologische Erkrankungen sowie seltene rheumatologische und autoimmunologische Erkrankungen.

"Ich sehe regelmäßig Patienten, die seit der Kindheit Beschwerden haben und jetzt 50 Jahre alt sind - oder älter - und immer noch keine abschließende Diagnose haben." Susanne Hertel, Fachärztin für Neurologie am ZSE Lübeck

Vier Millionen haben seltene Erkrankung

Im normalen medizinischen Alltag fallen diese Menschen oft durchs Raster. Denn da ihre Erkrankungen selten sind, werden diese häufig nicht erkannt - und es gibt nur wenige Experten dafür. Für Pharmafirmen lohnt sich, aufgrund der wenigen Fälle, eine Forschung wirtschaftlich nicht. Insgesamt leben laut Bundesgesundheitsministerium etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung in Deutschland. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn höchstens fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Mehr als 6.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen sind laut Bundesgesundheitsministerium derzeit bekannt, jährlich kommen demnach etwa 250 neue hinzu.

"Hart zu sehen, wie Krankheit Menschen verfallen lässt"

Bei Conni deutete sich früh an, dass er Chorea Huntington in sich tragen könnte. "Ich hatte immer schon Verdachtsmomente", erzählt er. Er beobachtete Symptome bei sich, die er bei seinem Vater erlebt hatte. Der war an Huntington erkrankt. "Was diese Krankheit mit den Menschen anstellt, ist einfach schwer. Es war echt hart zu sehen, wie diese Krankheit den Menschen verfallen lässt", erinnert sich Conni. Als der Vater an Huntington gestorben war, wurde die Krankheit auch bei seinem Bruder festgestellt. "Ich habe lange damit gehadert, ob ich den Test auch machen will", erzählt Conni. Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters entschied er sich dafür - 2019 war das - und es wurde klar, dass auch er die Erbkrankheit in sich trägt.

Besprechung in interdisziplinären Fallkonferenzen

Patienten, die am ZSE in Lübeck landen, werden normalerweise von Haus- oder Fachärzten dorthin geschickt. Etwa 200 Fälle sind es laut Ripke pro Jahr, Tendenz steigend. "Wir schauen uns die Akte des Patienten an und besprechen den Fall in unserer interdisziplinären Fallkonferenz", beschreibt Annekatrin Ripke von ZSE. In dieser Fallkonferenz sitzen Experten verschiedener Bereiche zusammen. "Wir nutzen alle Fachdisziplinen, die wir am UKSH haben", so Ripke. Nachdem das Ärzteteam beraten hat, formuliert es in einem Empfehlungsschreiben, wie Diagnostik und Behandlung des Patienten weitergehen können. In einigen Fällen werden Patienten auch zur Sprechstunde ins ZSE eingeladen. "Wir machen hier aber nur Diagnose, keine Behandlung", unterstreicht Ripke. "Das ist ein Punkt, der uns von der Fernsehserie Dr. House unterscheidet."

Die Arbeit am ZSE in Lübeck hat sich laut Ripke mit den Jahren verändert. "Zu Beginn - vor zehn Jahren - war das eine ehrenamtliche Ad-On Aufgabe, die nicht finanziell abgebildet werden konnte", sagt sie. Seit 2019 finanziert sich das ZSE über den sogenannten Zentrumszuschlag, der von den Krankenkassen finanziert wird. Zudem fließen auch immer mal wieder fallbezogen Gelder in das Zentrum. Ärztinnen, wie Ripke und Hertel, die - nicht nur, aber vor allem - für das ZSE arbeiten, haben einen normalen Vertrag am UKSH.

Was ist Chorea Huntington?

In Deutschland sind laut dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
derzeit etwa 10.000 Menschen symptomatisch von Chorea Huntington betroffen. Das Huntington-Gen könnten Schätzungen zufolge etwa 30.000 Menschen in Deutschland in sich tragen. Es handelt sich um eine vererbbare Erkrankung des Gehirns. Dort gehen nach und nach Bereiche zugrunde, die für die Steuerung der Muskeln, für psychische und kognitive Funktionen wichtig sind. Symptome der Krankheit sind unter anderem zuckende Bewegungen von Kopf, Armen, Beinen und Händen und ein tänzelnder Gang. Viele Patienten werden zunehmend reizbar, aggressiv, depressiv oder enthemmt, andere werden ängstlich. Außerdem kann es zu Misstrauen und Kontrollzwang und zu Wahnvorstellungen kommen. Schluckbeschwerden und Sprachstörungen sind andere Sympotome. Betroffene stoßen oft unwillkürliche Laute aus, später wird ihre Sprache unverständlich. Erste Symptome zeigen sich meist im Alter von 35 bis 50 Jahren, in der juvenilen Form auch schon vor dem 20 Lebensjahr. Chorea Huntington ist bislang unheilbar und führt zum Tod.

Weniger Stress kann lebensverlängernd wirken

Conni zog aus dem baden-würtembergischen Ulm vor wenigen Jahren in den Norden - aus beruflichen Gründen. Hier wandte er sich direkt an das ZSE. "Die Gewissheit zu haben, dass ich mit meinen Problemen und meinen Sorgen herkommen kann, das hilft mir sehr", sagt er. Einen Tipp, den er bekam, um besser mit der Krankheit leben zu können: Weniger Stress zuzulassen. Conni arbeitet aus diesem Grund heute am Empfang einer Immobilienfirma. In die Gastronomiebranche, in der er vorher arbeitete, kann er nicht mehr zurück. "Obwohl ich da sehr, sehr gerne gearbeitet habe. Aber es war auch unheimlich stressig", berichtet er. Weniger Stress kann bei Menschen mit seiner Diagnose heißen, dass sie länger leben.

Diagnose verbessert

Die Ursache für viele seltene Erkrankungen liegt laut Neurologin Susanne Hertel häufig in Gendefekten. Und da gab es in den vergangenen Jahren unheimlich viel Bewegung in der Forschung. "Man kann heute Dinge diagnostizieren, die man vor zehn Jahren nicht hätte diagnostizieren können, weil man die Gene noch gar nicht kannte", fasst Hertel zusammen. Das ist häufig wichtig für Patienten, die hier nach einer langen Ärzteodyssee landen - und für die man häufig Diagnoseverfahren anwenden kann, die es zu Beginn ihres Diagnosewegs noch gar nicht gab.

Selbsthilfegruppen geben Stabilität

Abgesehen von dem medizinischen Fachwissen ist es für Betroffene aber auch wichtig, sich untereinander auszutauschen. Auch Conni will sich demnächst einer Selbsthilfegruppe anschließen. Der Entschluss dazu fällt ihm nicht ganz leicht, ist es doch ein Zugeständnis an seine Krankheit. Aber dann wäre er damit weniger alleine. Das ZSE will in diesem Jahr die Vernetzung zu Selbsthilfegruppen ausbauen. Geplant ist außerdem eine Genomdiagnostik zu starten. So könnten unklare Erkrankungen eindeutig bestimmt werden. "Damit erhoffen wir uns eine deutliche Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten", so Neurologin Hertel.

Hobbys sind wichtig

Conni hofft auf die Forschung, nimmt auch deshalb an der Langzeitstudie Enroll-HD teil. Gleichzeitig glaubt er, dass Forschungsfortschritte eher künftigen Patienten helfen können, ihm nicht mehr. Eine der Symptome von Chorea Huntington ist, dass die Betroffenen Wesensveränderungen durchmachen. Oft werden sie dann aggressiv. "Ich mag keine Aggression. Das ist meine größte Angst, irgendwann zu einem aggressiven Biest zu werden, das alle anfaucht", sagt Conni. Er denkt immer wieder viel nach - über sich und seine Krankheit: "Das reißt einen in tiefe Löcher hinein. Die Tage können manchmal etwas dunkel sein. Deshalb ist es wichtig, sich etwas zu suchen, was schön ist." Conni macht das. Er tanzt seit er 14 ist. Daran hält er fest. Und er ist im Chor. "Es singen um einen herum manchmal bis zu 70 Leute. Und die ganze Last, die auf einem hängt, ist dann weg", beschreibt er. Das gibt ihm Kraft, weiterzumachen und Chorea Huntington etwas entgegenzusetzen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 29.02.2024 | 20:10 Uhr

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