Kinder stehen inmitten anderer Geflüchteter Menschen (Jugoslawienkriege 1992, Symbolbild). © IMAGO / viennaslide Foto: IMAGO / viennaslide

Auf der Flucht: "Du zählst die Stunden"

Stand: 18.03.2022 05:00 Uhr

Gemeinsam mit ihrer Mutter Snežana Baošić ist Reporterin Maja Bahtijarević 1992 aus Bosnien-Herzegowina geflohen. Die Bilder von ukrainischen Frauen auf der Flucht wecken Erinnerungen.

von Maja Bahtijarević

Was packst du ein, wenn du plötzlich dein Zuhause verlassen musst? Wenn du nur einen Koffer tragen kannst, weil du im anderen Arm dein Kind hast? Da ihre Männer im Land bleiben, flüchten gerade vor allem Mütter mit ihren Kindern aus der Ukraine, mit der Hoffnung, dass bald Frieden ist - und der Ungewissheit, ob sie diejenigen jemals wiedersehen werden, die im Land geblieben sind. Ich kenne eine ähnliche Lage aus einer vagen Erinnerung und die ist 30 Jahre alt: 1992 bin ich als Fünfjährige mit meiner Mutter vor dem Krieg in Bosnien-Herzegowina geflüchtet.

Moderatorin Maja Bahtijarević © Maja Bahtijarević Foto: Maja Bahtijarević
Maja Bahtijarević war fünf Jahre alt, als ihre Mutter mit ihr floh.
"Du zählst die Stunden bis zu deiner Flucht"

An einem Tag Ende April 1992 kommt nachmittags gegen 17 Uhr der Anruf: Morgen Vormittag, 9.30 Uhr, geht der Flieger. "Das war wie im Traum - ich vergesse diesen Moment nicht. Du zählst die Stunden bis zu deiner Flucht", erzählt mir meine Mutter schon 2015, als die ersten großen Wellen vertriebener Menschen aus Kriegsgebieten nach Deutschland kamen. Auch damals wühlten die Bilder von flüchtenden Frauen mit ihren Kindern meine Mutter auf. Es war das erste Mal, dass ich sie so offen zu unserer Flucht befrage. "Abends ab 20 Uhr war Sperrstunde, danach durfte keiner mehr draußen sein. Ich musste in zwei, drei Stunden alles erledigen: Einkauf, mit den Freunden reden, mit meiner Mutter sprechen, Sachen packen - das war der Horror", erinnert sie sich.

Dann kommt die Leere

Snežana Baošić.  Foto: Maja Bahtijarević
Snežana Baošić ist 1992 gemeinsam mit ihrer Tochter, Reporterin Maja Bahtijarević, aus Bosnien-Herzegowina geflohen.

Mein Vater bleibt im Land, er will nicht wahrhaben, dass ein Krieg ausgebrochen ist - in Jugoslawien, seinem Jugoslawien, für ihn und viele andere ein Beispiel friedlicher Koexistenz von Menschen verschiedener Prägungen. Meine Mutter und ich flüchten ohne ihn, erst mal Richtung Ferienhaus meiner Tante in Kroatien. Endziel: unbekannt. "Ich bin keine große Frau, ich kann nicht viel schleppen. Was kannst du in einem Koffer mitnehmen?", fragt meine Mutter rhetorisch und beschreibt damit ihr Dilemma am Vorabend des Fluges. Sie habe dann einfach darauf losgepackt, fast schon instinktiv, was Dünnes für den Sommer, Pullover, Jacken - und ein kleines Stück Leben. "Ich habe ein paar Fotos mitgenommen - mehr ging nicht", sagt meine Mutter.

Auch ich packe an dem Abend meinen A4-großen Spielkoffer, erzählt sie, mit meinem bisschen Realität: den paar Lieblingsplüschtieren, zwar hier und da bis auf das blanke Textil verschlissen, dafür aber voll von Erinnerungen. Dass ich nicht schönere Dinge eingepackt hatte, habe bei meiner Mutter fast eine Krise ausgelöst, sagt sie und lacht über die Absurdität des Moments kurz auf - als hätte es nichts anderes gegeben, um das es sich zu sorgen galt. "Und auf einmal kommt die Leere", sagt sie dann, "weil du alles zurücklässt in dieser Wohnung. Du drehst den Schlüssel - und dann ist es vorbei."

Erinnerung in Bruchstücken

Unsere Reise geht fünf Tage lang, mit Flugzeug, Bus und Fähre, aus meiner Heimatstadt Banja Luka in einen Ort im kroatischen Dalmatien, wo der Krieg fern scheint und wir erstmal bleiben könnten. Auch dort fühlt sich meine Mutter nicht ganz sicher, schließlich kämpfen zeitweise auch Kroatien und Bosnien gegeneinander, doch die Konfliktlinien liegen mehrere Hundert Kilometer weit weg. Vieles von dem, was wir während dieser Zeit erleben, rekonstruiere ich später im Leben dank der Erzählungen meiner Eltern, da ich für einen Großteil eigener Erinnerungen damals noch zu jung war.

Bruchstückhaft finde ich aber doch Bilder in meinem Gedächtnis: Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter im Flugzeug nach Belgrad, wir warten mit vielen anderen Frauen und Kindern an einem Busbahnhof irgendwo im Nirgendwo, meine Mutter, die ihren Kopf auf den verschränkten Armen auf dem Tisch der Fähre ablegt und döst. Schließlich mein Vater mit dem roten Renault 5 zwischen den Rosmarinsträuchern, der nach einigen Tagen doch nachkommt und dann vorausfährt, um eine neue Bleibe in Deutschland zu finden. Monate später die lange Busfahrt nach Kassel, dann weiter in einen kleinen Kurort in Nordhessen. Dort, in einer Ein-Zimmer-Ferienwohnung, die uns eine Familie zur Verfügung gestellt hatte, endet die Flucht - und es beginnt meine erste Erinnerung an das neue Leben in Deutschland.

Lachende Flüchtlingskinder aus Bosnien spielen auf einer Wippe. © IMAGO / viennaslide Foto: IMAGO / viennaslide
Trotz der schwierigen Situation lachen zu können - für Kinder aus Kriegsgebieten gibt Alltag Stabilität.
Gefühle, die längst begraben waren

Jetzt in den Nachrichten ukrainische Frauen zu sehen, die mit ihren Kindern in Bussen das Land verlassen - solche Bilder holen meine Mutter ein, rufen Gefühle hervor, die lange verdrängt und begraben waren. "Ich weiß genau, was für eine Traurigkeit und Angst sie haben", sagt sie, "es ist sehr schwer, deine Heimat zu verlassen - und dein Leben". Wenn man geflüchtet ist, sei man dankbar um jede Hilfe, ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen. Was dann noch eine riesige Bedeutung habe, ist, wenn das Kind in einer kindgerechten Umgebung aufgefangen wird. Bei uns ging das gut: Zwei Monate nach Ankunft kam ich in die Schule, als Nachzüglerin in die erste Klasse. Für meine Eltern eine große Erleichterung, für mich Unbeschwertheit zwischen anderen Kindern, der Tobi-Fibel und an den Fingern klebende Glitzersterne aus der Bastelstunde.

Ein Geruch oder ein Lied bringt die Vergangenheit zurück

Meine Mutter sagt: Im Prinzip verliere man mit der Flucht aber die eigene Identität. "Du musst ein ganz anderes Leben aufbauen, ein zweites Leben, in dem du ganz anders funktionieren musst." Ihre Geschichte sei nur eine von Millionen Geschichten. Hier in Deutschland fühle sie sich jetzt zu Hause, sie sei zufrieden, sagt sie. "Aber manchmal ruft ein Geruch oder ein Lied alles wieder zurück - und du bist wieder in deinem ersten Leben." Dann habe man das Gefühl, dass man gar nicht wirklich lebt, sondern dass man nur überlebt. "Dieser Identitätsverlust bleibt immer - diese kleine Dosis von Traurigkeit."

Damals brach in meiner Heimat eine Nation auseinander, Hass durchzog die Gemüter und spaltete Freundschaften. Dass wir jemals wieder nach Bosnien zurückkehren werden, war für meine Eltern schon von Anfang an unwahrscheinlich. Zu tief gruben sich die Schluchten durch die Gesellschaft - bis heute. Die Ukraine hat eine andere Geschichte als Bosnien-Herzegowina. Meine Mutter hofft, dass die Frauen und Kinder eine Perspektive haben, um irgendwann in ihre Heimat zurückkehren zu können, in ihr "erstes" Leben. Und ich hoffe das auch.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 14.03.2022 | 19:15 Uhr

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