Auf einem Schild steht das Wort "Pflegeeltern". © NDR Foto: Margarita Ilieva

"Familienanker" Lübeck will Pflegefamilien unterstützen

Stand: 28.09.2023 17:25 Uhr

Immer mehr Kinder müssen in Pflegefamilien aufgenommen werden - auch in Schleswig Holstein. Die neue Einrichtung "Familienanker" in Lübeck bietet Unterstützung für Familien und Kinder.

von Margarita Ilieva

"Seit einem Jahr ist meine Tochter bei ihrer Pflegefamilie. Seitdem bin ich glücklicher geworden." Er klingt überzeugt, man merkt ihm jedoch an, dass die Worte nur schwer über seine Lippen kommen. Sven* ist alleinerziehender Vater, hat vier Kinder. Zwei von ihnen sind schon erwachsen. Vor anderthalb Jahren hat er seine jüngste Tochter (4 Jahre) in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben - zuerst vorübergehend und inzwischen langfristig. Unterstützung hat er dabei vom "Familienanker" bekommen - der neuen Kooperation vom Jugendamt Lübeck und Mitarbeitenden zweier Organisationen für sozialpädagogische Kinder- und Jugendbetreuung.

"Mir blieb nichts anderes übrig" 

Vor zwei Jahren wurde bei Sven die unheilbare Lungenkrankheit COPD diagnostiziert. Um seine Kinder vor einem unerwarteten Ablauf zu schützen, entschied er sich seine vierjährige Tochter in eine Pflegefamilie zu geben. Für ihn war es die einzig richtige Entscheidung.  

"Beide Kinder haben immer gewusst, dass wenn Papa irgendetwas entscheidet, dann tut er das für uns. Vielleicht tut das weh, aber es kann nicht schlecht sein. Denn Papa hat uns lieb und entscheidet nur Dinge, die gut für uns sind." Birgit Fuckerieder, Teamkoordinatorin Familienanker

"Ich bin ruhiger geworden", sagt Sven. Er wisse, wenn ihm wegen seiner Krankheit etwas passiert und er ins Krankenhaus muss, sei für seine Kinder gesorgt. Ob seine zweitjüngste Tochter (8 Jahre) auch von einer Familie zur unbefristeten Pflege aufgenommen wird, ist noch unklar. Für Svens kleinste Tochter war es jedoch eine sehr nahe liegende Entscheidung: "Mir blieb nichts anderes übrig."

"Familienanker" als Knotenpunkt in der Pflegekinderhilfe

Svens Tochter ist eines von vielen Kindern, die Betreuung durch eine Pflegefamilie benötigen. In seinem Fall hat das gut geklappt und er ist zufrieden - er spricht von einem "Dreamteam". Das gute Verhältnis zwischen ihm, seiner Tochter und den Pflegeeltern ist nicht selbstverständlich. Es ermöglicht aber einen geschützten Rahmen für die Entwicklung des Kindes. "So würden wir uns das für alle Pflegekinder wünschen”, sagt Birgit Fuckerieder, Teamkoordinatorin beim "Familienanker".

Mehrere Personen stehen nebeneinander vor einem Monitor, auf dem das Familienanker Logo zu sehen ist. © NDR Foto: Margarita Ilieva
V.l.n.r: Andrea Varner-Tümmler (KJHV Lübeck), Julius Schorpp (Sprungtuch e.V.), Kultur- und Bildungssenatorin Monika Frank, Renate Junghans (Jugendamt Lübeck).

Seit Anfang des Jahres kooperiert das Jugendamt Lübeck mit einer multiprofessionellen Trägergemeinschaft aus Sprungtuch e.V. und dem Kinder- und Jugendhilfe-Verbund, um Kinder und Jugendliche, Eltern und Pflegefamilien Unterstützung und Beratung während eines Pflegeverhältnisses zu bieten. Mit dem "Familienanker" entsteht nun ein Ort zur persönlichen Zusammenkunft für alle Beteiligten. Seit Januar sitzt die Trägergemeinschaft "Familienanker" in den Räumlichkeiten im Walkmühlenweg 3 im Lübecker Süden. Hell und kinderfreundlich gestaltet, sollen sie einen angstfreien und geschützten Rahmen für die Zusammenkunft von Kindern, leiblichen- und Pflegeeltern bieten. Gleichzeitig ist der Kontakt über kurze Wege zum Pflegekinderdienst und zum Allgemeinen Sozialen Dienst möglich.

Auch leibliche Eltern bekommen Beratung

Ein Schrank voll mit vielen Büchern und Spielzeug. © NDR Foto: Margarita Ilieva
Hier soll Kindern ohne Angst und in einer vertrauten Umgebung der Austausch zwsichen Ursprungs- und Pflegefamilie ermöglicht werden.

Dabei sieht sich die Kooperation als eine Art Baustein im Reformprozess der Lübecker Pflegekinderhilfe: "Uns ist es wichtig in dieser Kooperation als unterschiedliche Organisationen wahrgenommen zu werden, die für eine verlässliche und gute Sache stehen. Wir sind ein wichtiger Baustein der Jugendhilfe - so wie die Kita und die Schule es auch sind", betont Julius Schorpp, Geschäftsführer vom Verein für sozialpädagogische Projekte Sprungtuch e.V. Seine Organisation bildet neben dem Kinder- und Jugendhilfe-Verbund (KJHV) und dem Jugendamt Lübeck eine der drei Säulen der Trägergemeinschaft "Familienanker". Er betont, dass auch leibliche Eltern einen großen Bedarf an Beratung, Unterstützung und Mediation haben. Dies geht seiner Meinung nach bei der Diskussion um die Thematik häufig unter.

Betreungs- und Informationsangebote auch für die leiblichen Eltern zu schaffen ist eines der Ziele der neuen Kooperation: "Es geht bei der Kinder- und Jugendhilfe darum, Kindern, die aus welchen Gründen auch immer nicht in ihrer Ursprungsfamilie leben können, ein Zuhause zu geben, in dem sie sich gut entwickeln und aufwachsen können", sagt die Lübecker Kultur- und Bildungssenatorin Monika Frank.

Bundesweiter Mangel an Pflegeeltern

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden im vergangenen Jahr mehr als 66.000 Kinder und Jugendlichen in Obhut genommen. Der Bestand an Pflegefamilien - ob kurz- oder langfristig - kann den Bedarf aber seit längerem nicht stemmen. Allein in Schleswig-Holstein gab im vergangenen Jahr über 3.000 Inobhutnahmen - 43 Prozent mehr als in 2021. Bei fast der Hälfte dieser Fälle war der häufigste Grund die unbegleitete Einreise aus dem Ausland. Die Situation habe sich durch den Ukraine-Krieg und der Corona-Pandemie weiter verschlechtert, berichtet Alice Vial, kommissarische Abteilungsleiterin des Pflegekinderdienstes. Zurzeit betreut der Lübecker Pflegekinderdienst etwa 350 Kinder und Jugendliche in 250 Pflegefamilien. Dabei ist mehr als ein Drittel davon in Pflegefamilien außerhalb der Hansestadt untergebracht.

Ein Grund für den Mangel an Pflegefamilien sei das fehlende Bewusstsein, dass Menschen als Pflegeeltern geeignet sind. "Viele Menschen können sich das vorstellen, sie denken aber, dass sie bestimmte strenge Voraussetzungen erfüllen müssen. Dem ist nicht so", ergänzt Senatorin Frank. Pflegefamilien aus verschiedensten kulturellen Hintergründen, sowie gleichgeschlechtliche Paare oder alleinerziehende Personen sollen besonders ermutigt werden, sich mit der Möglichkeit des Pflegeverhältnisses auseinanderzusetzen.

Initiative mit Vision

An einer Glasscheibe hängt das "Familienanker" Logo. © NDR Foto: Margarita Ilieva
Der „Familienanker“ soll den nötigen Raum bieten, bürokratische und emotionale Barrieren abzubauen und das gegenseitige Vertrauen zu stärken.

Die neue Kooperation soll ein grundlegendes Reformprozess in der Pflegekinderhilfe unterstützen. "Wir haben viele Fantasien von Kampagnen, in denen wir deutlich zeigen können, was wir hier allgemein leisten, aber auch dass es eine sehr lohnenswerte Aufgabe sein kann, Pflegefamilie zu werden", schließt Senatorin Frank. Perspektivisch wünscht sie sich, dass der "Familienanker" dabei eine Vorstufe von einem "Haus der Pflegekinder" wird.

Aufwühlend und emotional bereichernd

Für Eltern, die sich bereit erklären, ein Pflegekind zu sich aufzunehmen, kann dies emotional sehr aufwühlend sein. "Man kann es mit nichts anderem vergleichen. Eine Geburt ist zwar auch emotional aufwühlend, aber anders. Ich kann diese Erfahrung jedem empfehlen, der sich dazu durchringt. Es ist nicht für jeden das Richtige. Aber es ist auf jeden Fall eine ganz tolle emotionale Erfahrung." Martin* ist Pflegevater von einem vierjährigen Mädchen. Für ihn war dies ein logischer Schritt in der Familienplanung und er ist glücklich, Unterstützung durch die Kooperationspartnter des "Familienankers" erhalten zu haben. Inzwischen kann es sich sein Leben nicht anders vorstellen.

Verschiedene Pflegeformen möglich

Auf einem Stück Papier sind zwei Handabdrücke in lila zu sehen. © NDR Foto: Margarita Ilieva
Über 3.000 Kinder wurden in Schleswig-Holstein allein 2022 in Obhut genommen. Das sind 43 Prozent mehr als noch im Jahr davor.

Martins Erfahrung teilt auch Sylvia*. Sie nimmt Kinder zur sogenannten Bereitschaftspflege, sowie zur befristeten Vollzeitpflege auf. Im Gegenzug zur unbefristeten Vollzeitpflege besteht bei den anderen Betreuungsformen die Möglichkeit, dass das Kind zurück in die leibliche Familie zurückkommt. "Ich sehe als meine primäre Aufgabe, für das Kind da zu sein und als zweite Aufgabe dem Jugendamt den Rücken freizuhalten, sodass sie alles im Hintergrund in Ruhe regeln können." Um als Pflegefamilie in Frage zu kommen braucht es nicht viel, sagt sie. "Tatsächlich sind die Entwicklungsschritte in der Langzeitpflege, wenn man merkt, dass die Kinder ein sicheres und stabiles Umfeld haben, wahnsinnig spannend. Es ist schön zu sehen, wie Kinder manchmal aufblühen, auch in einer Phase, die schwierig ist."

Auch Sven freut sich auf das nächste Treffen mit seiner Tochter. Alle drei Wochen kommen er, das Kind und seine Pflegeeltern im "Familienanker" zusammen. Er lacht, wenn er erzählt, dass sich nach dem einstündigen Termin in dem Räumlichkeiten, oft noch ein ganzer Abend mit Tochter und Pflegeeltern außerhalb des "Familienankers" ergibt. "Ich bin zufrieden. Meine Kinder nehmen mich jetzt so wie ich bin", schließt Sven.

Der nächste Informationsabend im Familienanker findet am 4. Oktober von 16 bis 18 Uhr im Walkmühlenweg 3, 23560 Lübeck.

*Namen von der Redaktion geändert

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 27.09.2023 | 16:30 Uhr

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