Kommentar zu Koalitionsverhandlungen: Zum Erfolg verdammt
Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP zur Bildung einer neuen Bundesregierung haben begonnen. Ziel ist, in der zweiten Dezemberwoche Olaf Scholz (SPD) zum neuen Kanzler zu wählen. Wie stehen die Chancen, dass sich die Gesprächspartner auf ein Ampel-Bündnis einigen?
Der NDR Info Wochenkommentar von Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur von "The Pioneer".
Wer hätte das vor einigen Monaten gedacht: FDP und Grüne treffen miteinander Absprachen für eine gemeinsame Koalitionsarbeit - und beide sind sich schon jetzt einig, dass mit ihrer tatkräftigen Mithilfe der Sozialdemokrat Olaf Scholz der nächste Kanzler werden soll.
Vergessen sind grüne Führungsfantasien und sozial-liberale Streitereien über unterschiedliche Gesellschaftsmodelle und Politikphilosophien. Oder wie es FDP-Generalsekretär Volker Wissing in dieser Woche bemerkenswert zusammenfasste: Man wolle jetzt Handlungsfähigkeit zeigen und äußerst zügig die Verhandlungen abschließen. Kein Wort mehr davon, dass es ja eigentlich auch mit der Union eine Mehrheit geben würde. Kein Kokettieren mehr, keine Sticheleien. Keine kleinen, taktischen Unfreundlichkeiten.
Noch vor einigen Monaten kaum denkbare Konstellation
Es ist etwas passiert in Deutschland, das über die reine Abwahl der Union aus dem Kanzleramt hinausgeht. Mit SPD, Grünen und FDP verhandeln drei Partner eine Koalition, die eben nicht automatisch zueinander gehören. Im Gegenteil. Noch vor einigen Monaten war eine Möglichkeit der Zusammenarbeit bestenfalls eine linke Spinnerei in einem Land, in dem sich vieles zu wandeln schien, nur eines eben nicht: Die Partei, ohne die in Deutschland keine Bundesregierung gebildet werden kann, bleibt die Union.
Dass der Wählerwille SPD, Grüne und FDP an einen Verhandlungstisch gebracht hat, verlangt den Partnern ab, einen längeren Weg zu gehen, als es in anderen Konstellationen der Fall wäre. Und sie nehmen die Aufgabe an: Die Art und Weise, wie die drei miteinander verhandeln, wie sie sich öffnen und annähern ist ein Prozess politischer Kompromissfähigkeit, der dem eingefahrenen politischen System in Deutschland guttut. Und es ist der einzige Weg, der diese Koalition zu dem Erfolg führen kann, den das Land braucht.
Regierung muss drei große Aufgaben angehen
Denn die Aufgaben der kommenden Jahre sind gewaltig. Deutschland steuert auf die Zeit nach der Pandemie zu, in der die Kassen leer und politische Ausnahmezustände beendet sind. Es ist die Zeit des nüchternen Kassensturzes - kein einfacher Zustand. Milliarden fehlen plötzlich in einem Staatshaushalt, der über ein Jahrzehnt von ewigem Wachstum zu profitieren schien.
Und in diese Realität schiebt sich mit Macht die nächste Großaufgabe: Deutschland muss den Klimawandel bekämpfen und dies mit einer Form der Energiewende tun, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Der Strombedarf wird in den kommenden Jahren rasant ansteigen, doch auf Kohle und Atomkraft können wir bald nicht mehr zurückgreifen.
Fossile Energien werden sich verteuern und der Verbraucher wird es spüren -an steigenden Benzinpreisen und Heizungsrechnungen. Die Energiewende ist plötzlich kein theoretisches Projekt mehr, sie wird konkret, teuer - und für manchen auch schmerzhaft. Aber sie ist eben auch ohne echte Alternative. Genau wie die Modernisierung des Staates, die Digitalisierung unseres Lebens und Alltags - das größte Versäumnis der 16 Regierungsjahre von Angela Merkel (CDU).
Für die Union war das Regieren wohl zu selbstverständlich
Es sind drei gigantische Aufgaben, die eben nur gelingen können, wenn sich die Partner einer Regierung über die politische Verantwortung im Klaren sind, die sie tragen. Diese Aufgaben lassen sich nicht mit einer Partei lösen, die denkt, das Kanzleramt ist eine selbstverständliche, exekutive Erweiterung der eigenen Parteizentrale.
Die Union hat sich schon oft in der Geschichte um Deutschland verdient gemacht - am spürbarsten und eindeutigsten in den Jahren der deutschen Einheit. Den Schritt in die Zukunft schaffen aber womöglich eher drei Parteien, für die Regierungsverantwortung in den anstehenden Rollen eben keine Selbstverständlichkeit ist.
Die Ampel hat eine Chance, gerade weil die Situation so herausfordernd ist, wie beschrieben. Zeitenwenden haben in Deutschland immer neue Koalitionen hervorgebracht. Oft, weil es die vorige Regierung nicht erkannt oder umgesetzt hat. Es ist wieder einmal soweit. Es ist Zeit für Zukunft, Mut und einen Neuanfang - und womöglich ist die Ampel zwar ein Zufallsprojekt - aber genau das Projekt, das diesen Neuanfang meistern kann.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
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