Stand: 21.08.2022 06:00 Uhr

Kommentar: Reisebann für Russen stärkt russische Propaganda

Im Westen werden Forderungen nach drastischen Einreiseeinschränkungen für Menschen aus Russland laut. Ein solcher Schritt wäre kurzsichtig und kontraproduktiv, meint Ulrich Schönborn, Chefredakteur der "Nordwest-Zeitung" im NDR Info Wochenkommentar.

Die Meinung von Ulrich Schönborn, Chefredakteur der "Nordwest-Zeitung" (NWZ)

Ulrich Schönborn Chefredakteur Nordwest-Zeitung © Nordwest-Zeitung Foto: Johannes Bichmann
Für NWZ-Chefredakteur Ulrich Schönborn sind gerade jetzt Begegnungen und Kontakte wichtig.

Der Staudamm im finnischen Imatra ist eine Attraktion, auch für russische Touristen. Allabendlich werden im Sommer die Schleusen geöffnet und Wassermassen ergießen sich zu klassischen Klängen des finnischen Komponisten Jean Sibelius tosend in das Flussbett. Seit einiger Zeit erklingt allerdings nicht Sibelius, sondern die ukrainische Nationalhymne - als Kriegskritik an die Adresse der Schaulustigen aus Russland.

Es bleibt nur noch der Propagandasender in der Heimat

Das wird wohl bald vorbei sein. Denn Finnland will die Vergabe von Visa an russische Touristen drastisch reduzieren. Ähnliche Pläne gibt es in den baltischen Staaten, Estland hat Einschränkungen bei der Einreise russischer Staatsbürger bereits in die Tat umgesetzt. So werden künftig deutlich weniger Russen mit Protestaktionen wie in Finnland daran erinnert, was in der Ukraine wirklich passiert. Wenn sie nicht in den Westen reisen dürfen, haben sie auch keinen Zugriff mehr auf die Medien, die ihnen einen ganz anderen Blick auf den Krieg in der Ukraine bieten als die Propagandasender in ihrer Heimat.

Vor allem in Russlands Nachbarländern fällt die Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, alle russischen Bürger quasi als Kriegsverbrecher mit einem Einreise-Bann zu belegen, auf fruchtbaren Boden. Aber auch in der gesamten EU werden entsprechende Appelle laut. Das mag mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zunächst verständlich sein. Bei näherer Betrachtung ist dieser Bann, mit dem Selenskyi die Front gegen Russland stabil halten will, aber kleinkariert, kontraproduktiv und kurzsichtig.

Nicht alle Russen unter Generalschuld stellen

Kleinkariert, weil die Forderung vor allem auf Emotionen abzielt und die Falschen trifft. Die massiven Sanktionspakete gegen Russland schränken schon längst die Reisemöglichkeiten von Mitgliedern der Putin-Clique in den Westen ein, blockieren ihre Vermögen und verhindern ihre Geschäfte. Nun alle Russen unter Generalschuld zu stellen und mit einem Einreise-Bann zu belegen, ist absurd - und kontraproduktiv, weil es dem Regime in Moskau in die Hände spielt.

Selenskyi argumentiert, Bürger eines Terrorstaats müssten wie Terroristen behandelt werden. Damit verkennt er die Eigenschaften eines Terrorregimes. Es ist nicht nur aggressiv nach außen, sondern auch repressiv nach innen. Merkmal jedes Terrorstaats ist, dass er seine Bürger drangsaliert, Meinungsfreiheit einschränkt, Staatspropaganda betreibt und die Zivilgesellschaft zerstört.

Mit der Forderung nach einem Reisebann gibt der Westen der russischen Propaganda neue Nahrung. Sie wird ihn als weiteren Beleg für die Russophobie des Westens instrumentalisieren, der Buhmann steht jenseits der Grenze. Ein Reisebann nimmt den Menschen aus Russland gleichzeitig die Möglichkeit, staatlicher Propaganda zu entgehen, sich aus anderen Quellen zu informieren und eigene Positionen zu hinterfragen.

Stärkung einer aufgeklärten Zivilgesellschaft

Dabei ist es doch gerade jetzt dringend erforderlich, Putins Narrative des russlandfeindlichen Westens und der militärischen Spezialoperation gegen angebliche Nazis und deren Militärstrukturen in der Ukraine zu brechen. Deshalb ist der Reisebann kurzsichtig. Die beste und möglicherweise einzige Chance, einen politischen und gesellschaftlichen Umschwung in Russland zu erreichen und irgendwann wieder zu einer tragbaren Koexistenz mit dem Riesenland zu kommen, liegt in der Stärkung einer aufgeklärten Zivilgesellschaft.

Ein genereller Reisebann für Russen wird den Krieg in der Ukraine nicht stoppen, sondern die Fronten weiter verhärten. Er wird jegliche Annäherung ebenso erschweren wie den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das russische Regime, auf den gerade im Westen so viele hoffen.

Der Krieg wird irgendwann enden und Russland wird noch da sein. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist unverzeihlich, eine Rückkehr zur Normalität ist derzeit kaum vorstellbar. Doch es ist grundfalsch, aus moralischen Prinzipien oder emotionaler Erregung alle Brücken abzubrechen und die privaten und persönlichen Bindungen weiter zu kappen, die in den vergangenen 30 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden sind. Gerade jetzt sind Begegnungen und Kontakte wichtig. Eine Zivilgesellschaft als wohl effektivsten Schutz vor Diktatur und staatlicher Willkür stärkt man nicht, indem man die Menschen aussperrt.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Weitere Informationen
Anna, die Ehefrau eines vor zwei Monaten getöteten Soldaten, und der Vater Oleksandr stellen auf dem Friedhof der Hafenstadt Odessa die ukrainische Nationalflagge am Grab ihres Ehemannes auf. (Foto vom 24. Februar 2024) © Kay Nietfeld/dpa

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Tanja Koktash, Tetyana Novakova  mit Tochter Anastasja und Anna Kvashuk mit Sohn Pavlik (v.l.n.r.) © NDR Foto: Lea Eichhorn/Astrid Wulf

Ukrainerinnen im Norden: Das Leben nach der Flucht

Hunderttausende Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. NDR Info begleitet einige von ihnen in Norddeutschland. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kommentar | 21.08.2022 | 09:25 Uhr