Kommentar: Jetzt zeigt sich, was wirklich wichtig ist
Der Ukraine-Krieg eskaliert mit jedem Tag mehr, Wladimir Putin ist nicht zu bremsen. Das Kriegsgeschehen überdeckt die Debatte um den Klimawandel und erst recht die Sorgen wegen der Corona-Pandemie.
Ein Kommentar von Cora Stephan, freie Autorin
Von einem auf den anderen Tag haben sich die Prioritäten verschoben - seit dem 24. Februar, seit Wladimir Putin seine Truppen in die Ukraine hat einmarschieren lassen. Der Konflikt, der ja schon länger schwärt, ist nun zum offenen Krieg geworden - und er ist uns unbehaglich näher gerückt. Was war das noch, worüber wir uns gestern so heftig gestritten haben? "Geschlechtergerechte Sprache", ja oder nein? Eine Pandemie - oder etwas, das längst zur Endemie geworden ist? Alles kein Thema mehr?
Tatsächlich hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach noch vor Kurzem - er hat das schließlich nicht getan, als der Krieg schon ausgebrochen war - bitter beklagt, dass man sich mit den Großmachtfantasien von Putin beschäftige, wo es doch darum gehe, die Pandemie zu bekämpfen, neue Pandemien zu verhindern und, ja, den Klimawandel zu bekämpfen. Ist das nicht ein wenig abstrakt angesichts der sehr realen Bedrohung des Lebens von Menschen in einem Krieg?
Gewiss: der vor knapp einer Woche veröffentlichte "Weltklimabericht" hat eindrücklich gemahnt und gewarnt - nicht allein vor einer globalen Erwärmung, sondern vor allem vor deren prognostizierten Folgen. Und die erklärt man bei der Kommission im zweiten Teil des Berichts als ausschließlich bedrohlich. So habe die Erwärmung negativen Einfluss auf die Nahrungsmittellage. Dagegen sprechen nicht nur Befunde aus dem mittelalterlichen Klimaoptimum, sondern auch ganz aktuelle: Nie hungerten weniger Menschen als im letzten Jahrzehnt. Die Lebenserwartung weltweit hat sich in hundert Jahren verdoppelt.
Hängt das Wohlergehen der Menschheit tatsächlich allein vom Klima ab? Und wäre es nicht besser, man würde sich auf Veränderungen einstellen, statt etwas zu bekämpfen, das man nicht bekämpfen kann? Nun, die Warnung vor den negativen Folgen braucht man, um die einigermaßen anspruchsvolle These zu untermauern, es komme darauf an, das Klima "zu retten" - etwa durch die Verringerung der Emission von CO2. Das ist der Weg, den man in Deutschland geht - jene Energiewende, die durch Angela Merkels einsamen Beschluss von 2011, den Ausstieg aus dem Ausstieg aus der CO2-sparsamen Atomenergie zu beenden, massiv unterstützt wurde. Drei Kernkraftwerke sind bereits abgestellt, Ende dieses Jahres sollen drei weitere folgen. In der neuen rotgrüngelben Regierung werden grüne Träume wahr, denn auch aus fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas will man so bald wie möglich aussteigen, die sogenannten erneuerbaren Energien sollen es richten, selbst in einem Industrieland mit hohem Bedarf an verlässlicher Energie wie Deutschland.
Ein Sonderweg, den Deutschlands Nachbarn nicht unterstützen. Nachbarn wie Frankreich oder Polen, aber auch die Niederlande, Tschechien und die Türkei setzen auf Kernkraft. Die Niederlande protestieren bereits angesichts der deutschen Wünsche nach steigender Gaslieferung. Vor allem aber hat Putins Angriff auf die Ukraine schlagartig vor Augen geführt, dass Zukunftsträume nicht viel helfen, wenn man in der Gegenwart blank dasteht.
Deutschland ist von Russlands Gas-, Öl- und Kohlelieferungen in einem Ausmaß abhängig, das Deutschland erpressbar macht. Man kann Putin ein klein bisschen schaden, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck meint, wenn man Energie spart? Noch nicht einmal ein ganz klein bisschen. Putin dürfte wissen, wie sehr die Deutschen von seinem Wohlwollen abhängig sind. Immerhin gibt der grüne Minister mittlerweile der Versorgungssicherheit den Vorrang vor Klimaschutz und möchte keine "Denktabus" mehr. Womöglich wird demnächst auch die grüne Ablehnung der Kernkraft fallen - ausgerechnet in einer rotgrüngelben Koalition.
Ja, die Tabus purzeln von Tag zu Tag. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung will Kanzler Scholz urplötzlich einen Geldsegen von 100 Milliarden Euro über der Bundeswehr niedergehen lassen - als ob man erst jetzt erkannt hätte, dass die Truppe gottlob nicht mehr angriffsfähig ist - aber verteidigungsfähig ist sie schon mal gar nicht. Ja, vielleicht ist das, wie Olaf Scholz meint, eine Zeitenwende.
Doch was das Debakel in der Ukraine betrifft, kommt sie zu spät. Und was die Energieversorgung betrifft: nicht nur der nächste Winter kommt bestimmt.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
