Die Therapeutin Anna Turinsky von der Initiative Honighelden. © NDR Foto: Esther Finis
Die Therapeutin Anna Turinsky von der Initiative Honighelden. © NDR Foto: Esther Finis
Die Therapeutin Anna Turinsky von der Initiative Honighelden. © NDR Foto: Esther Finis
AUDIO: HonigHelden - Psychotherapie für geflüchtete Kinder (5 Min)

Hamburg: Psychotherapie hilft Kindern mit Fluchterfahrungen

Stand: 16.04.2024 14:07 Uhr

Viele geflüchtete Kinder leiden unter einer psychischen Störung, die von Lehrkräften an deutschen Schulen nicht aufgearbeitet werden kann. Das Hamburger Projekt "HonigHelden" hilft ihnen.

von Jonas Kühlberg

Rund ein Drittel aller nach Deutschland einreisenden Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche, schätzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Häufig haben sie in ihrem Heimatland Krieg erlebt und eine beschwerliche Flucht hinter sich gebracht. Angekommen in Deutschland müssen sie dann eine neue Sprache lernen und sich in eine neue Kultur eingliedern. Viele Kinder haben psychische Probleme, um die sich kaum jemand kümmert. Weil auch Kinder- und Jugendpsychologen und -psychologinnen nicht auf ihre Bedürfnisse spezialisiert sind, fallen geflüchtete Kinder deshalb häufig durchs Raster und erhalten keine psychologische Hilfe.

Eine Hamburger Initiative geht mit speziell ausgebildeten Psychologen und Psychologinnen und Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen direkt an Schulen, um geflüchtete Kinder zu erreichen. Inzwischen nehmen acht Hamburger Grundschulen an dem Projekt teil, das bisher einzigartig in Deutschland ist. Die Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg ist eine davon. Sie liegt im Stadtteil Dulsberg, der früher in der Öffentlichkeit meist als sogenannter "sozialer Brennpunkt" bezeichnet wurde.

Kinder lernen, Gefühle auszudrücken

Olek ist einer der kleinen Patienten von Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Anna Turinsky. Vor fast zwei Jahren ist er aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Die Strapazen der Flucht waren viel für den Jungen. Deshalb stand er anfangs völlig unter Strom. Mit der Psychotherapie hat er gelernt, seine Gefühle zu kontrollieren.

Die Therapeutin Anna Turinsky mit dem kleinen Patienten Olek. © NDR Foto: Esther Finis
Anna Turinsky vom Projekt "HonigHelden" arbeitet mit Schulkindern. Die Initiative wendet sich speziell an geflüchtete Kinder.

Die Initiative "HonigHelden" wendet sich speziell an geflüchtete Grundschulkinder - eine ganz besondere Zielgruppe. Denn in ihrer Heimat ist Krieg, die Väter sind in der Armee, etliche Kinder haben auch schon Verwandte verloren. Das erschwere das Ankommen, sagt "HonigHelden"-Therapeutin Turinsky: "Wir arbeiten mit Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Viele Kinder lernen zwar extrem schnell Deutsch, in der Behandlung geht es aber auch darum, eine eigene Sprache zu finden, für das, was gerade los ist."

Ein Weg aus Steinen und Blumen

Ein Trauma sei eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis, sagt Turinsky. Darauf reagiere jeder anders. Die besondere Herausforderung sei es, einen Umgang mit Menschen zu finden, die Ängste noch nicht artikulieren können: "Die Erlebnisse müssen irgendeinen Ausdruck finden. Wir wollen den Kindern hier den Raum und unterschiedliche Möglichkeiten geben, genau diese Erlebnisse zu verarbeiten." Einige geflüchtete Kinder reinszenieren den Krieg, andere verstummen oder werden aggressiv.

Die Therapeutin Anna Turinsky zeigt Arbeitsmaterialien wie Steine, Blumen und ein Seil. © NDR Foto: Esther Finis
Die Methoden der Therapeutin sollen den Kindern helfen, auch in Zukunft schwierige Situationen zu meistern.

Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Turinsky versucht dann in der Therapiesitzung, die Perspektive zu verändern und das große Ganze wieder sichtbar zu machen: "Wir legen eine Lebenslinie und das Kind kann sich für alle belastenden, traumatischen Erfahrungen einen Stein aussuchen. Je nachdem, wie groß das Erleben war oder wie gut es erinnert wird, werden größere oder kleinere Steine ausgewählt." Zudem gebe es aber auch die Blumen - um nicht nur die schlimmen Ereignisse darzustellen, sondern auch das Positive, die Ressourcen. Das Visualisieren helfe den Kindern, das Erlebte für sich einzuordnen, sagt Turinsky. Sie will den Kindern helfen, auch die "Blumen" im Alltag zu sehen - ohne die Steine im Leben zu vergessen. Denn die Steine hinderten die Kinder nicht daran, ihren weiteren Weg zu finden. Schließlich sei ihre Lebenslinie noch lang und könne mit weniger Steinen gestaltet werden.

Initiative von Ex-Tennis-Star Steffi Graf

Hinter den "HonigHelden" steckt die Stiftung "Children for Tomorrow", gegründet von der ehemaligen Tennisspielerin Steffi Graf. Seit dem Ende ihrer Karriere unterstützt sie Kinder, die Opfer von Krieg und organisierter Gewalt geworden sind. 2021 sagte sie dem NDR: "Für Kinder mit Flucht- oder Kriegshintergrund ist es unheimlich schwer, den Weg in eine normale Praxis zu finden. So haben wir ein ganzes Netzwerk zur Eingliederung der Kinder inklusive Elterntherapie, das ihnen dann bestmöglichst helfen kann."

Die Lehrerin Sabine Wesemüller © NDR Foto: Esther Finis
Lehrerin Sabine Wesemüller merkt, dass die Therapie die Kinder wieder ausgeglichener macht.

Um an Kinder und Eltern herantreten zu können, mussten auch die Lehrkräfte an Bord geholt werden. Doch denen fehlt häufig die Unterstützung. An der Schule Alter Teichweg in Hamburg ist das Problem bekannt. Grundschullehrerin Sabine Wesemüller sagt: "Allein in der Grundschule haben wir 56 verschiedene Herkunftsländer. Wir bemerken häufig, dass Kinder traumatisiert sind und ganz außer sich geraten. Dadurch entstehen Situationen, die schwer zu händeln sind." Hinzu komme, die Schwierigkeit sich auf Deutsch zu verständigen, wenn die Kinder noch nicht lange hier leben.

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Fast die Hälfte der Kinder hat psychische Probleme

Deshalb hat das Stiftungsprojekt "HonigHelden" spezielle Weiterbildungen für Lehrerinnen und Lehrer entwickelt. Diese sollen ihnen helfen, zu erkennen, wann geflüchtete Kinder an Traumata und ernsthaften psychologischen Problemen leiden.

Häufig ist das nämlich noch ein blinder Fleck: Allein in Hamburg werden über 8.000 geflüchtete Kinder aus der Ukraine an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet - in ganz Norddeutschland sind es 28.500, so Zahlen der Kultusministerkonferenz. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass sechs von zehn Kindern und Jugendlichen behandlungsbedürftige psychische Störungen zeigen, so das Kinderhilfswerk "terre des hommes".

Ein Junge schaut auf ein Arbeitskärtchen. © NDR Foto: Esther Finis
Olek lernt in der Therapie viel - und die Sitzungen machen auch mal Spaß.

Zudem sind die Kosten für reguläre Psychotherapie teuer, die Plätze knapp und die Krankenkassen erstatten keine Dolmetscher oder Dolmetscherinnen. Hinzu kommt: Psychische Gesundheit ist, anders als beispielsweise Infektionskrankheiten, nicht Teil des routinemäßigen Screenings in Geflüchtetenunterkünften. Eine regelhafte Erstuntersuchung sei nicht vorgesehen. Dies erschwere ein lückenloses Screening psychischer Gesundheit, so das Robert Koch-Institut. Psychisch erkrankte Geflüchtete bleiben weitgehend unsichtbar. Die Hürden für betroffene Familien und ihre Kinder, sich in eine ambulante Praxis zu begeben, seien daher sehr hoch, sagt Turinsky.

Vorurteile gegenüber Therapie

Vor allem die Eltern müssten miteinbezogen werden. Doch das sei nicht immer einfach. In den meisten Fällen, wie bei Olek, gelinge das gut. Aber auch hier musste Turinsky viel erklären: "Wir haben auch Familien, bei denen das Wort 'Psychotherapie' sehr negativ besetzt ist. Da denken die Eltern, wir wollen ihr Kind in eine Klinik bringen und mit Medikamenten vollpumpen." Da sei viel Erklärungsarbeit notwendig. Denn: Je früher aber die Therapie beginne, desto besser der Behandlungserfolg, insbesondere bei Geflüchteten.

Bei Olek sind die Steine auf seiner Lebenslinie zwar geblieben, aber dank Anna Turinsky und der "HonigHelden" sind sie inzwischen ein bisschen kleiner geworden.

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NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 16.04.2024 | 07:48 Uhr

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