Annika Schröder mit Kameraden in einem Militärhubschrauber. © Screenshot

Kriegstüchtig: Außer Panzern fehlen auch Psychologen

Stand: 15.05.2025 06:00 Uhr

Drei Prozent der Soldaten kehren mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus dem Einsatz zurück, schätzt die Bundeswehr. Doch sie erreicht nur einen Bruchteil von ihnen. Neben neuen Waffen brauche es auch mehr Psychologen, fordert ein Traumaexperte.

von Christoph Heinzle, Kai Küstner, Timo Robben, Sugárka Sielaff

Als die Luftlandesanitäterin Annika Schröder am 2. April 2010, Karfreitag, in das afghanische Isa Khel bei Kundus einfährt, weiß sie noch nicht, was ihr bevorsteht: das erste Gefecht der gerade 25-jährigen Soldatin. Als Teil der "schnellen Eingreiftruppe" kommt sie Fallschirmjägern unter Beschuss zu Hilfe. "Und dann gab es schon einen heftigen Schlag, wie wenn man durch das Haus rennt und mit der Schulter zum Beispiel gegen den Türrahmen läuft", erzählt Schröder. Sie wird zu Boden geworfen, rappelt sich auf und läuft trotzdem weiter. Später stellt sich heraus, dass ihr Rucksack getroffen wurde.

Schröder birgt an diesem Tag zwei tote und zwei verletzte deutsche Soldaten. Das sogenannte Karfreitagsgefecht gilt bis heute als schwerstes Gefecht in der Geschichte der Bundeswehr. Soldatin Schröder wird für ihren Einsatz die "Einsatzmedaille Gefecht" und das Ehrenkreuz verliehen.

Verdacht auf PTBS

Annika Schröder © Screenshot
Manchmal denke sie, das Karfreitagsgefecht habe ihr Leben zerstört, sagt die frühere Sanitäterin Schröder.

Dieser Tag verändert ihr Leben für immer: "Es fing an mit der Schlaflosigkeit, was ganz, ganz schlimm war, dass ich ständig wirklich in höchster Alarmbereitschaft war", sagt sie. "Wie kann man sich das vorstellen? Wenn zum Beispiel eine Tür knallt, also ein plötzlicher akustischer Reiz, dass ich sofort Herzrasen bekommen habe, Schweißausbrüche."

Die Ärzte vermuten, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Das geht aus ihrer Gesundheitsakte hervor. Doch die Soldatin macht weiter. Sie wird Ausbilderin für die Bundeswehr, gibt ihr Wissen weiter. Sie wird auf Lehrgänge in die USA geschickt, geht in den Auslandseinsatz nach Litauen. Dabei leidet sie unter Panikattacken, entwickelt eine Depression und beginnt zu trinken. Therapiemaßnahmen scheitern regelmäßig. "Mein vorrangiges Gefühl war, dass sie mich nicht verstehen, dass sie mich nie verstehen wollen. Der Eindruck war stark, nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen einsatzgeschädigten Kameraden."

Entlassung ohne weitere Unterstützung

Die Bundeswehr erreicht die Soldatin nicht mit ihren Therapiemaßnahmen. Schließlich wird Schröder für dienstunfähig erklärt, ihre Entlassung steht kurz bevor. Ein Gutachten im Auftrag der Bundeswehr kommt zu dem Schluss, dass ihre psychische Erkrankung nicht auf den Einsatz in Afghanistan zurückgehe und keine PTBS vorliege. Das bedeutet: Anders als anerkannte Einsatzgeschädigte bekommt Schröder keine zusätzliche finanzielle Unterstützung - und nach der Entlassung keine weitere Therapie durch die Bundeswehr.

Traumaexperte: Gutachten kam zu falschem Schluss

Arne Hofmann © Screenshot
Traumaexperte Hofmann: Schröder zeige klassische Symptome einer PTBS vom dissoziativen Subtyp.

Der Arzt Arne Hofmann arbeitet seit Jahrzehnten mit traumatisierten Menschen zusammen, auch mit Soldaten. Er gründete die deutsche Gesellschaft für Psychotraumatologie. Zwar hat er Schröder nicht persönlich getroffen, liest sich aber in das 74-seitige Gutachten ein: "Das Gutachten ist gut, fleißig bemüht, hat aber erhebliche Lücken und einige richtige Fehler und Fortbildungsmängel", sagt Hofmann. "Und dadurch kommt es zu einem falschen Schluss."

Das Gutachten entspreche nicht dem aktuellen Stand der Forschung. "Korrekterweise hätte die Diagnose lauten müssen: posttraumatische Belastungsstörung vom dissoziativen Subtyp", sagt der Arzt. Durch die Fehldiagnose sei verpasst worden, Schröder die richtigen Therapiemaßnahmen anzubieten. 

Bundeswehr ohne genauen Überblick zu PTBS bei Soldaten

Peter Zimmermann © Screenshot
Im Umgang mit Soldaten mit PTBS sei die Bundeswehr noch nicht perfekt - werde aber besser, sagt der PTBS-Beauftragte Zimmermann.

Der PTBS-Beauftragte der Bundeswehr, Peter Zimmermann, möchte sich nicht zu Einzelfällen äußern. Er betont jedoch: "Wir haben immer mal wieder Menschen, die auch mal durchs Raster fallen, was aber ganz sicher kein böser Systemwille ist. Ich würde auch sagen, es wird bei weitem überdeckt von einem insgesamt wirklich sorgfältigen und fürsorglichen System, das wir hier haben, gerade versorgungsrechtlich."

Dabei kann die Bundeswehr nur schätzen, wie viele ihrer Soldaten unter einer PTBS leiden. Das zeigt die hohe Dunkelziffer: Die Bundeswehr hat etwa 450.000 Soldaten ins Ausland geschickt. Bei etwa 2.750 Soldaten wurde PTBS diagnostiziert. Aber selbst nach den eher konservativen Berechnungen der Bundeswehr entwickeln knapp drei Prozent der Einsatzrückkehrer eine PTBS. Das wären heute schon 13.000 aktive oder ehemalige Soldaten.

Auf Nachfrage räumt Zimmermann ein, dass man überhaupt nur einen geringen Teil der psychisch erkrankten Soldaten mit Therapiemaßnahmen erreiche. "Wir können mit zehn bis zwanzig Prozent, selbst wenn es dann im Verlauf mal dreißig werden, nicht zufrieden sein", sagt er. "Das ist nach wie vor ein sehr wichtiges Thema. Denn eine psychische Erkrankung, die über längere Zeit schwelt, ist zwar dann immer noch behandelbar, aber es wird nicht unbedingt leichter, weil viele Mechanismen chronifiziert sind. Ein schneller Behandlungsbeginn ist definitiv günstig für die Heilungsaussichten." Das System sei zwar noch nicht perfekt, aber man passe immer weiter an.

Arzt: Armee braucht mehr Psychologen

Die Bundeswehr befinde sich auf einer Lernkurve, sagt der Arzt Hofmann. "Alle reden über Rüstungsgegenstände, die man kauft, im ersten Fall von Panzern, von Luftabwehr, von Drohnen, aber es sind Menschen, die das bedienen. Und es sind Menschen, die in die Bundeswehr kommen und die ihr Land verteidigen möchten", sagt der Traumaexperte. Und um diese Menschen müsse sich die Bundeswehr kümmern: "Das nennt sich Fürsorgepflicht." 

Neues Gutachten bringt die Wende

Annika Schröder beim Füttern ihrer Schweine. © Screenshot
Schröder beim Füttern ihrer Schweine: Ihr Hof sei ihre eigene Therapie.

Bei Annika Schröder hat sich im Laufe der Recherche etwas getan - 15 Jahre nach dem Karfreitagsgefecht. Der Bund Deutscher Einsatzveteranen und mehrere Bundestagsabgeordnete haben Druck gemacht und Schröder wurde erneut für ein Gutachten einbestellt. Dieses Mal lautet der Befund: PTBS, anerkannte schwere Einsatzschädigung.

Aus der Bundeswehr scheidet sie trotzdem aus, aber nun steht ihr eine zusätzliche finanzielle Unterstützung zu. Das ermöglicht ihr die Sicherung ihrer Existenz und ihres kleinen Hofes im Norden von Sachsen. Eigentlich war sie immer gern Soldatin, sagt sie: "Ich habe das gern gemacht, weil mir das wichtig ist, für das Land zu dienen. Aber wir sollten das auch wieder zurückbekommen. Die Dankbarkeit dafür, dass wir Leib und Leben riskieren. Und an dieser Dankbarkeit sollte gerade die Bundeswehr deutlich arbeiten."

An Therapiemaßnahmen durch die Bundeswehr ist sie nicht mehr interessiert, sie habe eine eigene Therapie entwickelt: Sie unterhält eine kleine Veteranenherberge, ihren Hof: "Annis kleine Farm". Hierhin lädt sie regelmäßig auch andere Einsatzgeschädigte ein.

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 15.05.2025 | 21:45 Uhr

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