Als St. Pauli den Weltpokalsieger FC Bayern besiegte
Am 6. Februar 2002 schlägt der FC St. Pauli sensationell den FC Bayern München. Die Spieler gehen als "Weltpokalsiegerbesieger" in die Geschichte ein. Der Club vermarktet den Erfolg geschickt.
Als das Fußball-Wunder geschafft ist, sinkt Holger Stanislawski auf den Rasen des bebenden Millerntor-Stadions. Fix und fertig. Ausgepumpt. "Ich war einfach leer, kaputt. Es war die letzten 20 Minuten nur noch ein Reinwerfen, nur noch ein Standhalten", schildert der ehemalige Abwehrchef des FC St. Pauli später die Schlussphase der Bundesliga-Partie gegen den FC Bayern München am 6. Februar 2002.
Das Bollwerk hält - und nach 90 spannenden, aufreibenden Minuten hat das Schlusslicht der Liga den großen Favoriten verdient mit 2:1 niedergerungen. "Wir hatten wirklich Bayern München geschlagen. Wir konnten es kaum glauben", erzählt Stanislawski dem NDR.
Der Triumph brennt sich ins Gedächtnis der Spieler, vor allem aber in das der Fans ein. Auch, weil der einfallsreiche, aber über Jahre finanziell notorisch klamme Verein auf den unverhofften Erfolg mit einer geschickten Marketing-Strategie reagiert: St. Pauli kreiert den Begriff "Weltpokalsiegerbesieger" - der FC Bayern hatte gut zwei Monate zuvor den Cup durch ein 1:0 über Amerika-Meister Boca Juniors geholt - und bringt entsprechende T-Shirts auf den Markt. Ein Verkaufsschlager. 400 Stück gab es in einer ersten Auflage, mehr als 100.000 hatte der Club zehn Jahre nach dem historischen Coup verkauft.
Den Schneid abgekauft
Im Februar 2002 haben die Bayern seit mehr als sechs Jahren nicht mehr am Millerntor gastiert. Das Stadion ist am 21. Spieltag mit 20.735 Zuschauern rappelvoll. St. Pauli, allen voran Trainer Dietmar Demuth, sinniert lange über die geeignete Marschroute. "Wir haben eine sehr riskante Taktik gewählt. Aber ich wusste, dass die Bayern vorne ein Riesenpotenzial, aber hinten Schwierigkeiten haben", erzählt der Coach dem NDR.
Extra motivieren muss er seine Schützlinge nicht: "Für die meisten war es das Spiel des Jahrhunderts, das erste Spiel gegen Bayern München." St. Pauli ergreift die Initiative, treibt den Kontrahenten "bis an die Eckfahne", so Stanislawski, damals auch Kapitän der Kiezkicker. Damit haben die Gäste offenkundig nicht gerechnet. "Wir sind vorne draufgegangen und 90 Minuten richtig marschiert. Damit haben wir ihnen den Schneid angekauft", berichtet der ehemalige Abwehrspieler André Trulsen.
Meggle und Patschinski treffen
St. Pauli spielt vor allem in der ersten Halbzeit wie entfesselt, ein fulminanter Linksschuss von Rechtsfuß Thomas Meggle an die Latte ist in der 22. Minute das Startsignal: Hier geht was! "Da haben wir gemerkt, auch wir können Richtung Tor schießen, und von da an lief die Maschinerie", erinnert sich "Stani". Ausgerechnet der gebürtige Münchner Meggle, bei St. Pauli auf dem Zenit seiner Karriere, sorgt nach einer halben Stunde mit einem Schuss aus der Drehung für die Führung des Underdogs.
Jahre später erinnert er sich: "Ich habe mich so schnell gedreht wie noch nie in meinem Leben. Normalerweise hatten meine Drehungen das Tempo eines Lkw." Die Fans singen: "Und so spielt ein Absteiger." Drei Minuten später legt Nico Patschinski nach - 2:0 zur Pause. Eine "gefährliche Führung", wie Stanislawski konstatiert: "Du fühlst dich relativ sicher, bekommst das 1:2 und fängst auf einmal an zu wackeln. Gegen Bayern sowieso. Wir wussten, wir hatten einen schlafenden Riesen geweckt", so der langjährige St.-Pauli-Coach (2006 bis 2011).
Kampf pur nach der Pause
Tatsächlich präsentieren sich die Bayern im zweiten Abschnitt nicht nur verändert, sondern auch qualitativ verbessert. Paulo Sergio wird eingewechselt, ebenso Mehmet Scholl und Giovane Elber, die Trainer Ottmar Hitzfeld eigentlich für das Topspiel gegen den späteren Meister Dortmund schonen will. Doch mehr als den Anschlusstreffer durch Willy Sagnol (87.) lassen die Kiezkicker nicht zu.
"Die Bayern haben versucht, sich aufzubäumen. Aber wir haben immer weitergespielt, sind immer weiter draufgegangen. Und dafür sind wir auch belohnt worden", erzählt Stanislawski. St. Pauli beißt sich fest, lässt nicht locker, kämpft, rennt, fightet. "Mehmet Scholl hat uns ein Riesenkompliment gemacht, als er in der Presse sagte, dass er das Gefühl hatte, dass ihn seine Gegenspieler ermordet hätten, um dieses Spiel zu gewinnen. Und dieses Gefühl haben wir ihnen auch gegeben", sagt Meggle dem NDR.
Überragende Atmosphäre am Millerntor
Die überragende Atmosphäre am Millerntor tut ihr Übriges, die Fans peitschen St. Pauli zum Sieg. "Das war 90 Minuten durchgehend pure Stimmung und Anfeuern. Das war einfach gigantisch", schildert Trulsen, und Stanislawski weiß: "So eine Atmosphäre brauchst du als Kleiner, um einen Großen zu schlagen." Der Sieg der Hamburger ist indes hochverdient, die Münchner sind mit dem 1:2 sogar noch gut bedient.
Bedient ist auch der damalige Bayern-Manager Uli Hoeneß, der seine Spieler im Bus zusammenfaltet: "Wir haben einen Dreck gespielt. Alle dachten, das geht hier Hacke, Spitze, eins, zwei, drei. Während ich eine schlaflose Nacht habe, kloppt ihr 30 Minuten nach dem Abpfiff schon wieder Karten und esst Scampis."
Abstieg am Saisonende
Beim glückseligen FC St. Pauli gönnen sich die Spieler nach dem Abpfiff ein paar Bier und stille Genugtuung. Mehr ist nicht drin. Schließlich steht schon drei Tage später die nächste Partie bei Schalke 04 an. "Das war eine Riesensensation, das genießt man. Natürlich hätten wir gerne drei oder vier Tage durchgefeiert, aber das war nicht möglich", sagt Demuth. Der Kiezclub kassiert in Gelsenkirchen dennoch eine herbe 0:4-Pleite. "Vielleicht haben wir gegen die Bayern zu viele Körner gelassen", sinniert der damalige St.-Pauli-Coach.
Ganze vier Siege gelingen den Hanseaten in der gesamten Spielzeit, dem Erfolg gegen den FC Bayern, der keine überragende Saison spielt und am Ende Dritter wird, folgt nur noch ein weiterer. Die Hamburger steigen als Tabellenletzter ab. "Immer, wenn wir ganz große Spiele gewinnen, die auch ihren Platz in der Ewigkeit finden, haben wir das große, ganze Ziel nicht erreicht. Das ist schade", bedauert Stanislawski.
Das "Weltpokalsiegerbesieger"-Spiel hat für ihn dennoch eine ganz besondere Bedeutung: "Es gibt so kleine Abschnitte im Leben eines Sportlers, die bleiben einfach. Und das ist ein Spiel, das bleibt für einen St. Paulianer."