Stand: 05.01.2017 11:00 Uhr

"Für jeden Psychoanalytiker ein Schatzkästlein!"

Pianist Markus Becker © Irène Zandel Foto: Irène Zandel
Seit 1993 ist der Pianist Markus Becker Professor für Klavier und Kammermusik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

Einst sang er im hannoverschen Knabenchor, heute ist Markus Becker ein renommierter Pianist und führender Interpret der Musik Max Regers: Seine Gesamteinspielung der Reger-Klavierwerke auf zwölf CDs ist mehrfach ausgezeichnet. Mit der NDR Radiophilharmonie führte er am 12. und 13. Januar 2017 das selten gespielte Klavierkonzert Regers auf. Worin die Faszination dieses Werkes und des Menschen und Komponisten Max Reger liegt, erzählt Markus Becker im folgenden Gespräch.

Als Komponist von Orgel- und Chorwerken ist Reger auch heute recht präsent. Sein umfangreiches Klavierwerk haben jedoch nur sehr wenige Pianisten im Repertoire. Was führte bei Ihnen zur intensiven Auseinandersetzung mit Regers Musik, gab es ein Schlüsselerlebnis?

Vor 25 Jahren entstand die Idee der Reger-Gesamteinspielung im Kontakt mit dem CD-Label Thorofon. Ich bin Helmut König, dem Produzenten, mein Leben lang dankbar für die Initiative und den Vertrauensvorschuss. Bis dahin gab es zwei Schlüsselerlebnisse: das Singen von Reger-Motetten im Knabenchor Hannover und das wunderbar rätselhafte Pausenzeichen im damaligen dritten Programm des NDR - Regers fremdartige b-a-c-h-Harmonisierung, das war in den Siebzigerjahren noch zu hören. Natürlich kannte ich als Student die Bach- und Telemann-Variationen, das Klavierkonzert und ein paar Kammermusikwerke. Aber ich wusste lange nicht, was da für ein Schatz zu heben sein würde.

Reger war ein enorm kreativer Mensch, sehr humorvoll, aber auch bärbeißig, labil und kompliziert, ein "polyphon schillernder" Charakter - der sich in seiner Musik widerspiegelt?

Reger neigte zur Übertreibung. Dahinter verbirgt sich eine hochsensible Persönlichkeit. Das ist eine eindeutige Parallele zwischen Kunst und Leben, wenn man das in seinem Fall überhaupt auseinanderhalten möchte. Allein der Umfang dessen, was er an Werken hinterlassen hat, dazu die vielen Transkriptionen, die Arbeit als Dirigent, Lehrer, Pianist, Organist. Und dann war da noch eine Familie. Wenn man sich mit seinen Werken inhaltlich auseinandersetzt, fällt eine grundsätzliche Unruhe auf - Reger wechselt in kurzen Abständen die Textur, die Gestik, den Ausdruck. Für jeden Psychoanalytiker ein Schatzkästlein! Für uns Interpreten liegt da das Problem und der Reiz. Diese Fülle von interpretatorischen Angeboten in ihrer Wechselhaftigkeit unter einen Hut zu bekommen, ohne ihr die Farbigkeit zu nehmen, muss das Ziel sein.

Der Komponist Max Reger (1873 - 1916) in einem Porträt von 1913. © picture alliance / akg Foto: akg-images
Max Reger komponierte sein Klavierkonzert im Jahr 1910 in Leipzig.

Gerade Regers Klavierkonzert hat diese immense "Fülle" und stellt höchste Ansprüche an den Pianisten wie an das Orchester. Sie werden es erstmals zusammen mit der NDR Radiophilharmonie aufführen.

Ich freue mich auf meine persönliche Premiere dieses großartigen Stückes gemeinsam mit der NDR Radiophilharmonie! Natürlich habe ich mich über viele Jahre hörend und spielend immer mit dem Klavierkonzert auseinandergesetzt. Es ist ein riesig dimensioniertes Kammermusikwerk mit zwei gleichwertigen Partnern. Klavier und Orchester sind so eng verwoben, wie es bis dahin vielleicht nur bei Brahms zu hören war. Es wird darum gehen, eine gemeinsame Klangbalance zu finden und dem Werk immer eine Richtung zu geben. Das Stück drängt nach vorn, hält inne, horcht in sich hinein. Reger notiert ständig Tempoänderungen, sogar mit Metronomzahlen - vor allem im ersten Satz, der wie ein großes Schiff in Fahrt kommt. Der zweite Satz ist unglaublich schön - Musik für den Himmel. Choralsequenzen werden umspielt, Orchester und Solist geben sich Raum, Reger nimmt sich Zeit und findet zu sich selbst. Das Finale ist ein Riesenspaß, es geht los wie ein verzerrter Ragtime, fast schon Hindemith. Bemerkenswert ist die simple Rhythmik kombiniert mit unglaublich komplexer Harmonik - Regers Spezialität.

Reger selbst meinte ja, "mein Klavierkoncert wird für Jahre noch unverstanden bleiben; die Tonsprache ist zu herb und zu ernst" - es hat aber, bei allem Anspruch und trotz aller Herbheit, also auch viel Mitreißendes und Emotionales in sich?

Regers Musik wird man nie nebenbei konsumieren können, sie verlangt einiges vom Hörer - den sie aber auch für sein Entgegenkommen reich belohnt. Reger hat seinen eigenen Weg gefunden, parallel zu Debussy oder Strawinsky aus der Romantik in die Moderne zu blicken: Tonales Vokabular wird auseinandergeschnitten und - wie in einer Collage - neu montiert. Ständig werden Hörerwartungen unterwandert, mit Trugschlüssen und nicht vollendeten Kadenzen. Aber, richtig: die große Wucht, die unendliche Zartheit, die genial farbige Instrumentierung und das unglaubliche Format dieses Stückes reißen uns mit.

Dirigent Joshua Weilerstein © Felix Broede Foto: Felix Broede
Der Dirigent Joshua Weilerstein ist der künstlerische Leiter des Orchestre de Chambre de Lausanne. Er ist bekannt für seine kreative Programmgestaltung und die Suche nach einem Dialog zwischen Musikern und Publikum.

Mit den Musikern der NDR Radiophilharmonie haben Sie schon oft als Konzertsolist und auch als Kammermusiker zusammengearbeitet. Der Dirigent des Konzerts ist der junge Amerikaner Joshua Weilerstein, kennen Sie ihn bereits und haben Sie sich vor Probenbeginn über eine Herangehensweise an Regers Klavierkonzert schon näher verständigt?

Vor einem Jahr habe ich Joshua bei einem Konzert in Hannover kennengelernt. Er ist ein großartiger Musiker - und ein sehr sympathischer, interessanter Gesprächspartner. Das sind für die gemeinsame Arbeit die besten Voraussetzungen. Große Vorfreude also! Natürlich haben wir uns über den Riesenbrocken schon strategisch unterhalten. Aber grau ist alle Theorie - entscheidend "is’ auf’m Platz". Wir werden sehr detailliert und ausgiebig proben.

Wenn Sie Reger einmal persönlich treffen könnten, was würden Sie ihn gerne fragen?

Ich stelle mir vor, Regers Psychotherapeut zu sein. Da gibt es viele Fragen. Woher rührt seine Maßlosigkeit? Warum hatte er gleichzeitig so eine tiefe, demütige Liebe zu Bach und Brahms? Warum hat er so ungesund gelebt, war das für ihn künstlerisch notwendig? Wie war seine Ehe? Was hat er gelesen? Hat er sich selbst gemocht? Wovon hat Max Reger geträumt?

Das Gespräch mit Markus Becker führte Andrea Hechtenberg

Orchester und Vokalensemble