VIDEO: NDR Info Redezeit: Air Defender - gerüstet für den Ernstfall? (57 Min)

Kommentar: Neuer Umgang mit dem Militär ist aufgeklärt und klug

Stand: 18.06.2023 00:00 Uhr

Air Defender, das große Luftwaffen-Manöver, war bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geplant - dennoch ist es auch ein wichtiges Signal an Russland. Warum sind die Zustimmungswerte zu diesem Manöver in Deutschland so groß?

Zwei F35 Kampfflugzeuge des Rüstungshersteller Lockheed Martin sind auf einem Flug zur Edwards Air Force Base in den USA unterwegs. © Tom Reynolds/Lockheed Martin Aeronautics/EPA/dpa
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von Hendrik Brandt, Chefredakteur in der Madsack-Mediengruppe Hannover

300.000 Demonstranten. So viele sollen es gewesen sein, als es im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten darum ging, ob Deutschland gegen die damalige Sowjetunion weiter aufrüstet.

Zwei Jahre und einen Regierungswechsel später waren es mindestens noch einmal so viele Menschen, die in der damaligen Bundeshauptstadt deutlich machten, dass sie die Anschaffung neuer Waffen als Folge eines NATO-Beschlusses für das Ende der friedlichen Welt hielten. Millionen im ganzen Land standen hinter ihnen.

Nur wenige demonstrieren gegen "Air Defender 23"

Hendrik Brandt, Chefredakteur in der Madsack-Mediengruppe Hannover © Hagemann Foto: Hagemann
Es sei gut, sich für für mögliche Bedrohungen zu rüsten, meint Hendrik Brandt.

300 Menschen. So viele waren es, wenn es hochkommt, die in diesen Tagen vor dem Fliegerhorst im niedersächsischen Wunstorf gegen die mit Abstand größte Luftverteidigungsübung demonstrierten, die das Land und das westliche Bündnis je gesehen haben. Hinter ihnen stehen nur die immer gleichen Unentwegten.

Die Zustimmungswerte zum Manöver Air Defender 23 mit seinem martialischen Auftritt dröhnender Flugzeuge samt der üblichen Militärfolklore sind in diesen Tagen riesengroß. "Das ist nicht schön, aber das muss wohl so" - so hat es eine Passantin in dieser Woche bei einer Straßenumfrage formuliert. Und damit vermutlich den Ton ganz gut getroffen.

Verhältnis zu den Streitkräften wird neu bewertet

Nein, das Land versinkt jetzt nicht in neuer Begeisterung fürs Militär oder gar den Gedanken an bewaffnete Auseinandersetzungen. Warum auch? Aber wenn nicht alles täuscht, ist unsere Gesellschaft im Lichte des brutalen russischen Imperialismus und der ansonsten wenig beschaulichen Weltlage endlich dabei, ihr Verhältnis zu den Streitkräften neu zu bewerten.

Da sind dringend ein paar Korrekturen nötig. Das betrifft den Umgang mit der Bundeswehr im Allgemeinen wie die Achtung vor der Arbeit einzelnen Soldatinnen und Soldaten im Besonderen. Wenn uns heute Menschen im Flecktarn im Zug oder auf der Straße begegnen, sind das nicht mehr die ewig angetrunkenen Wehrpflichtigen auf dem Heimweg vom stumpfsinnigen Dienst - sondern oft genug Fachleute, die das Land und damit uns auf ganz unterschiedliche Weise schützen. Die den Kopf hinhalten, wenn es darauf ankommt. Im Zweifel auch im Wortsinn.

Nur wenige Politiker verstanden etwas von Verteidigung

Dass es dazu in Europa jenseits akademischer Planspiele wirklich wieder einmal kommen könnte, lag lange Zeit außerhalb der Vorstellungswelt nahezu der gesamten Republik. Und der Politik zumal. Sie ließ lieber die Elektriker auf die Dächer steigen und die Warnsirenen abschrauben.

Auch die Riege blasser, bisweilen sogar offen unfähiger Verteidigungsministerinnen und -minister aus der jüngeren Zeit ist ein Indiz für diese Haltung. Verteidigung war zwar kein "Gedöns", wie Gerhard Schröder einst die Familienpolitik nannte, aber doch dicht dran. Nur wenige Menschen in der Politik verstanden etwas davon. Und die Bundeswehr selbst gefiel sich darin, zu einer weitgehend absurden Verwaltung zu mutieren, deren Gerät vergammelte und deren Einsatzfähigkeit mehr und mehr von Zufällen abhing.

Verbrechen der Wehrmacht wirken bis heute nach

Zudem hat die Republik ihr Militär meist nicht wirklich gemocht - es gab immer viele verschränkte Arme, wenn es um die Soldatinnen und Soldaten ging. Was nach den Verbrechen uniformierter Deutscher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Grunde kein Wunder war. Dass andere Länder über die Schattenseiten ihrer militärischen Tradition gern hinweg gehen, mag ihre Sache sein, bei uns verbietet sich das.

Es kann einen klugen Umgang mit dem Militärischen geben

Doch die Veränderungen vor allem der letzten anderthalb Jahre zeigen, dass es dennoch einen neuen, aufgeklärten und damit klugen Umgang mit dem Militärischen geben kann. Das ist gut so. Zumal klar ist, dass unsere Sicherheit zwar auch, aber eben nicht nur mit der Waffe in der Hand verteidigt werden muss.

So hat die Bundesregierung in dieser Woche erstmals eine Sicherheitsstrategie präsentiert, die zwar auch den gewaltigen Investitionsrückstand bei der Bundeswehr thematisiert, zugleich jedoch viele andere Aspekte zumindest einmal benennt. Da geht es um die Cybersicherheit ebenso wie um den Schutz von Strom- oder Wasserleitungen. Oder Lebensmittelvorräte.

Sind wir bereit, für die Sicherheit Abstriche in Kauf zu nehmen?

Unklar bleibt allerdings noch, ob das Land wirklich bereit ist, für seine Sicherheit Abstriche oder gar Einschränkungen hinzunehmen. Hielten wir es aus, für bestimmte Produkte mehr zu bezahlen, weil sie sicherheitshalber hierzulande hergestellt werden sollten? Sind wir dabei, wenn es darum geht, wieder Waffen in alle Welt zu liefern, um gut Wetter zu machen? Oder wird uns das alles ganz schnell wieder zu viel?

Die Bedrängnisse kommen näher - rüsten wir uns dafür

Dass es etwa Menschen und Medien gibt, die ernsthaft meinen, schon mögliche dezente Auswirkungen von Air Defender auf den zivilen Flugverkehr problematisieren zu müssen ("Kommen wir jetzt noch rechtzeitig in den Urlaub?") ist ein kleines Warnsignal. Diese Sorgen möchte mancher in der Welt gern haben.

Sicher ist derzeit also nur: Es wird ungemütlicher, die Bedrängnisse kommen näher. Es ist gut, sich dafür zu rüsten. Allseits.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 18.06.2023 | 09:25 Uhr