Kommentar: Merkel als Mutter der Malaise
Deutschland steckt zunehmend in einer politischen Krise - zumindest wenn man den Umfrageerfolg der AfD als Maßstab nimmt. Deutschland steckt auf jeden Fall in einer Wirtschaftskrise, von Wachstum zumindest ist nichts zu spüren. Naheliegend sei es, der regierenden Ampel die Schuld zu geben, aber es greife zu kurz, meint der freie Autor Christoph Schwennicke in unserem Wochenkommentar.
Letzter sein - daran haben wir uns beim European Song Contest mittlerweile gewöhnt - Germany: zero points, Allemagne: zero points. Für die Wirtschaftsweltmacht Deutschland aber ist es ein ganz neues Gefühl: Schlusslicht zu sein. Der Internationale Währungsfonds hat nun dem bisherigen Powerhouse Europas die rote Laterne umgehängt. Von 22 ausgewählten wirtschaftsmächtigen Ländern und Regionen hat Deutschland in der Prognose des IWF den letzten Platz belegt. Für 2023 sagen die Experten des Fonds ein Wachstum der Weltwirtschaft von drei Prozent voraus, für Deutschland ein Minus von 0,3 Prozent.
Auch bei der Inflation liegt Deutschland europaweit ganz hinten - oder in dem Fall bedauerlicherweise weit vorn. Die Arbeitslosenzahlen, die die Chefin der Bundesanstalt der Arbeit, Andrea Nahles, vergangene Woche tonlos vortrug, künden ebenfalls von einem beginnenden Niedergang.
Hat der grüne Wirtschaftsminister Schuld?
In der reflexhaften Suche nach den Ursachen und den politisch Verantwortlichen sind viele Beobachter ganz schnell bei der regierenden Ampel gelandet - am liebsten beim Wirtschaftsminister. Ein Grüner auf diesem Posten - das kann ja nur schief gehen, ist da der Tenor. Und natürlich haben manche Entscheidungen der amtierenden Bundesregierung einen Anteil am Problem. Man kann sich nicht aus dem Stand gleichzeitig vom russischen Gas verabschieden und die letzten Atommeiler stoisch abschalten. Der Strom, dieser Saft aus der Dose, der auch die Industrie antreibt, ist darüber extrem teuer geworden. Die energieaufwendige Industrie geht bei diesen Preisen zwangsläufig in die Knie.
Parallelen zu einem Gebrauchtwagen
Mit einem Land aber ist es im Prinzip wie mit einem Gebrauchtwagen. Wenn der zwei Jahre nach dem Besitzerwechsel zu mucken beginnt, dann kann das an der schlechten Wartung und am Fahrstil des Neubesitzers liegen. Erheblicher aber ist, wie der Vorbesitzer die letzten 16 Jahre mit dem Wagen umgegangen war. Ob er ihn immer technisch fit gehalten, regelmäßig frisches Öl gegönnt und die Bremsflüssigkeit rechtzeitig gewechselt hat.
Und ebenso ist beim Zustand eines Landes die Vorgängerregierung maßgeblich verantwortlich für dessen Krisenfestigkeit. Zu Recht hatte die Kanzlerin bei der Amtsübergabe im Kanzleramt im Beisein ihres Vorgängers seinerzeit hervorgehoben, dass sich Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 um Deutschland verdient gemacht habe. Dasselbe kann man von der Amtsinhaberin zwischen 2005 und 2021 leider nicht sagen. Hart formuliert: Die aktuelle Malaise hat eine Mutter. Sie heißt Angela Merkel.
Merkel eine Meisterin der Macht
Unbestritten war die erste deutsche Regierungschefin eine Meisterin der Macht, des Machterwerbs und des Machterhalts. Niemand kommt ohne diese Gabe bis ins Kanzleramt. Aber keiner ihrer Vorgänger hatte es in dieser Disziplin zu einer solchen Exzellenz gebracht wie Merkel. Daher wäre es auch jederzeit angemessen, ihr in dieser Disziplin einen Orden ans Revers ihrer unvergesslichen Jacken zu heften: Den "Goldenen Niccolo am Bande“, benannt nach dem Gründervater der modernen Machttheorie Niccolo Machiavelli.
Die vielen Bundesverdienstkreuze und das sonstige Lametta jedoch, das ihr seit ihrem Amtsende zugedacht wurde, bis hin zu einem bayrischen Orden aus der Hand ihres einstigen Großkritikers Markus Söder, das ist nurmehr aus dem milden Lichte der Verklärung und Verehrung zu erklären.
Leistungsbilanz fällt mager aus
In der Sache gibt es für diese Ehrenornamente wenig Grund. Die Leistungsbilanz der Kanzlerin Angela Merkel sieht mager aus. Bis auf die schwarze Null und die Schuldenbremse haben ihre 16 Amtsjahre keine strukturellen Reformen hervorgebracht, die Deutschland zukunftsfest gemacht hätten. Vielmehr kam es zu Fehlentscheidungen, deren Effekte sich heute erst so richtig erweisen.
Wie seinerzeit die positiven Effekte der Agenda 2010, die Merkel zugutekamen und nicht mehr Gerhard Schröder. Die Kanzlerin verlängerte und vertiefte den Fehler, sich wie kein anderes europäisches Land von russischem Gas abhängig zu machen. Sie setzte erst den Atomausstieg von Rot-Grün aus - um ihn dann nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima umso abrupter und überhasteter zu vollziehen. Dass die Ampel-Koalition den letzten drei verbliebenen Meilern nur noch ein paar Monate länger gönnte anstatt sie in neuer Lage bis auf weiteres am Netz zu lassen, ist gegen diese Strukturentscheidung eine Petitesse.
Digitalisierung, Bürokratieabbau? Fehlanzeige. Stattdessen erodierte mit Schienen, Straßen und Brücken systemrelevante analoge Infrastruktur. Darüber hinaus war es Angela Merkel, die schon als Oppositionschefin und als CDU-Parteivorsitzende vehement bestritt, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei - bis sich die Einwanderung ungesteuert vollzog und die Fachkräftefrage hinter der Flüchtlingsfrage zurückstand.
Ambitionsarmut der Politik übertrug sich aufs Land
Vorsorgende, verantwortliche Politik für die Zukunft sieht anders aus. Und ohne jetzt alles auf Merkels Schultern abladen zu wollen: Auch die Mentalität der Bevölkerung ist von ihr nicht den Umständen entsprechend vorgenommen worden. Die Ambitionsarmut der Politik übertrug sich gleichsam aufs Land. Merkel, die viele deshalb "Mutti" nannten, regierte auf eine Art, die besagte: macht es euch gemütlich, ich mache das für euch. Das wird schon. Wir schaffen das. Sie kennen mich. Darüber hat eine Kultur der Bequemlichkeit Einzug gehalten in einem Land, das einst so berühmt war für seine Schaffenskraft.
Für den Herbst werden die Memoiren Merkels erwartet. All ihre Äußerungen aus jüngster Zeit lassen vermuten, dass sie auch dort wieder darlegen wird, alles richtig gemacht zu haben. Dieser milde Blick auf sich selbst sei ihr gegönnt. Aber man muss ihn sich bei kühler Betrachtung der Tatsachen wirklich nicht zu eigen machen.
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