Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor dem Elysee Palast in Paris © picture alliance / ASSOCIATED PRESS Foto: Christophe Ena

Kommentar: Deutsch-französisches Verhältnis auf dem Tiefpunkt

Stand: 08.01.2023 06:00 Uhr

Deutschland liefert nun doch "Marder"-Panzer an die Ukraine. Die Bundesregierung folgt mit diesem Beschluss nach langem Zögern der Entscheidung Frankreichs, die Ukraine noch stärker zu unterstützen. Welche Figur macht die Ampel-Koalition unter der Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Blick auf den Russland-Ukraine-Krieg?

NDR Info Wochenkommentar von Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur von "The Pioneer"

Nach langen Wochen des Wartens ist die Entscheidung gefallen: Deutschland liefert mit dem "Marder" erstmals Schützenpanzer in die Ukraine. Mit deutschen Kettenfahrzeugen werden die ukrainischen Kämpfer nun gegen Russland das eigene Land verteidigen. Der Krieg verändert sich, er rückt noch ein wenig näher an Berlin heran - das endlich substanziell Verantwortung übernimmt. Es ist gut und richtig so.

Auf Unentschieden spielen geht nicht mehr

Gordon Repinski stellv. Chefredakteur und Leiter d. Hauptstadtbüros vom RND RedaktionsNetzwerk Deutschland © RND RedaktionsNetzwerk Deutschland Berlin GmbH Foto: Maurice Weiss
Das deutsch-französische Verhältnis muss dringend besser werden, meint Gordon Repinski.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in den Winterwochen noch schmutziger geworden. Wladimir Putin greift bewusst die Infrastruktur des Landes an, es geht nicht mehr um strategische Kriegsziele - die Bevölkerung soll im Dunklen frieren, leiden, demoralisiert werden. Es ist ein Zeichen der Brutalität - und der Schwäche Putins. Und gerade, weil beides so ist, kann es für Deutschland jetzt keine andere Antwort geben, als der Ukraine gegen diesen barbarischen Feind erst recht zu helfen. Auf Unentschieden spielen geht nicht mehr.

Verteidigungsministerin Lambrecht als Belastung für Scholz

Für Bundeskanzler Scholz bleiben nun trotz "Marder" und dem ebenfalls zugesagten "Patriot"-Abwehrsystem drei Baustellen bestehen. Erstens: Während des gesamten Kriegsverlaufs ist es Scholz nicht gelungen, in Europa und in Deutschland den Eindruck zu hinterlassen, dass er nicht zögerlich, sondern entschlossen die Ukraine unterstützt. Die Kriegskommunikation ist mangelhaft, dieses Problem zieht sich durch die gesamten vergangenen Monate.

Dass dies so ist, hängt auch mit der zweiten Baustelle zusammen - sie heißt Christine Lambrecht. Die Verteidigungsministerin wider Willen hat es nie geschafft, zum Gesicht der erklärten "Zeitenwende" zu werden. Stattdessen ist sie zum Gesicht der Zögerlichkeit geworden - und damit auch zur Belastung für Scholz. So sehr sich der Kanzler auch dagegen wehrt, während einer Legislaturperiode sein Personal auszutauschen: Im Fall von Lambrecht wäre es ein Befreiungsschlag, ein Zeichen weit über Berlin hinaus. Dieser Krieg wird ernst genommen.

Macron und Scholz funktionieren nicht miteinander

Die dritte Baustelle ist womöglich die größte, die sich in dieser Woche aufgetan hat: Allen gegensätzlichen Erklärungen zum Trotz befindet sich das deutsch-französische Verhältnis auf dem Tiefpunkt. Es ist geradezu absurd, dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron einen Tag vor Scholz verkündet, welches Kriegsgerät er in die Ukraine liefern will. Es ist beschämend für die europäische Achse aus Deutschland und Frankreich, beschämend für Europa, dass die Unterstützung für ein angegriffenes Land nicht ohne politisches Klein-Klein geschehen kann.

Macron und Scholz, das steht jetzt wirklich fest, funktionieren nicht miteinander. Sie sind die Antipoden der europäischen Politik. Der eine ein Mann der Geste, der andere ein Mann ohne Geste. Der eine laut, der andere leise, beide zugleich innenpolitisch unter Druck und mit unbedingtem Führungsanspruch. Scholz erträgt Macrons Theatralik nicht, Macron erträgt Scholz' Besserwisserei nicht. Wo De Gaulle und Adenauer, Giscard und Schmidt, Kohl und Mitterand, Chirac und Schröder und wenigstens mit Abstrichen Merkel und ihre Counterparts immer funktioniert haben, klafft eine der größten politischen Krisen Europas.

Es ist Zeit für einen deutsch-französischen Neuanfang

Der Krieg in der Ukraine wird wahrscheinlich noch viele Monate, wenn nicht Jahre, weiterlaufen. Die europäische Politik wird noch viele schwere Entscheidungen zu treffen haben. Es wird um weitere Unterstützung durch Waffen und Panzer gehen, um Energiepolitik, womöglich irgendwann auch um die Finanzen. Es sind die Fragen einer fundamentalen Krise, die nur gemeinsam in Europa beantwortet werden können.

Ein funktionierendes deutsch-französisches Verhältnis reicht dazu nicht aus - aber wenn es nicht funktioniert, dann ist Europa nicht mehr handlungsfähig. Es wäre ein fataler Moment für dieses Scheitern. Es ist Zeit für einen Neuanfang, in Berlin, in Paris, oder an einem anderen Ort, an dem sich Deutschland und Frankreich in der Politik begegnen, für eine kleine Zeitenwende. Wir sind es den angegriffenen Ukrainern und Ukrainerinnen schuldig, an denen Wladimir Putin jeden Tag in Reichweite zu Berlin Kriegsverbrechen begeht. 

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 08.01.2023 | 09:25 Uhr