Stand: 15.03.2013 15:04 Uhr

Dirty Dozen II - Legendäre Klavier Trios: e.s.t.

von Henry Altmann

Es war vor etwa zehn Jahren, als es hieß, dass im kleinen Hamburger Jazzclub Birdland eine schwedische Band aufträte, die so ein bisschen "was anderes, mit Groove und so" machen würden. Der Club platzte aus allen Nähten, der schwedische Attaché in Hamburg begrüßte die Gäste und man dachte sich noch: "Die tun was für ihren Jazz, die Schweden!" - Der Auftritt, na ja, war solide, ein akustisches Jazztrio mit rhythmischem Vorwärtstrieb eben, das den Gestus des Rock ins Harmoniekleid des Jazz gepackt und mit etwas Bartók und anderen Komponisten der Moderne aufgemischt hatte. Mir persönlich ein wenig zu vorhersehbar in der Durchführung und zu kühl. Aber umso höher loderten die Flammen der Beigeisterung rundum. Zu jener Zeit kam in Deutschland auch das Album "From Gagarin’s Point of View" heraus. Und staunend vernahm man, dass Pianist Esbjörn Svensson, Bassist Magnus Öström und Schlagzeuger Dan Berglund  bereits seit langem zusammen spielten und seit ihrem CD-Debüt 1993 als Jazzmusiker quasi Popstatus in der Heimat genossen.

Videos auf MTV 

e.s.t. aus Schweden

Ein paar Jahre später, die Altonaer Fabrik in Hamburg, 800 begeisterte Besucher, ein Popkonzert: Lightshow und Nebelschwaden, Elektro-Effekte und Drum 'n' Bass mit Duke Ellington kombiniert, eine Popband, die Jazz beziehungsweise Jazzartiges spielte, Videos auf MTV und ihre Titel in den Charts laufen hatte - sie war über die Genregrenzen gesprungen. Mit der Scheibe "Good Morning Susie Soho" bereiste das Trio ganz Europa und debütierte auf dem US-Plattenmarkt. Das Mutterland des Jazz, schon immer geringschätzig eingestellt gegenüber dem Jazz aus dem Rest der Welt, musste zur Kenntnis nehmen, dass es da eben doch noch etwas gab. Die folgenden Alben machten e.s.t., das Kürzel unter dem das Esbjörn Svensson Trio nunmehr weltläufig wurde, zu einem Markenartikel, der als Vorgruppe von k.d. lang in den USA vor 50.000 Zuhörern spielte. Im Mai 2005 schließlich zierten die drei als erste europäische Jazzband überhaupt das Titelbild der weltweit führenden Jazzpostille, dem US-Magazin Downbeat.

Musikalisch abgebaut

Längst hatten sich zu diesem Zeitpunkt Wahrnehmung und Wirklichkeit voneinander getrennt. Während die Wertschätzung der Öffentlichkeit immer neue Höhen erklomm, hatte man musikalisch eher abgebaut, in den Jahren seit 2002 mehr den Status Quo verwaltet und variiert. e.s.t. war angekommen und doch irgendwie auch am Ende. November 2007, Hamburg, die große Musikhalle: Vor einer frenetischen Menge entsteht das Live-Doppelalbum, Höhepunkt der Band-Popularität mit quasi-messianischem Charakter. Aber e.s.t. scheint das Ungleichgewicht zwischen Erfolg und musikalischer Entwicklung zu spüren, nebst einem immer umfangreicheren Tourneeplan mit über 100 Auftritten pro Jahr. Im Januar 2008 zieht man die künstlerische Reißleine, das Album "Leucocytes" wird in Sydney zwischen zwei Auftritten eingespielt, ohne Vorbereitung, improvisiert auf der Sicherheit zweier miteinander verbrachter Jahrzehnte.

Stilprägend 

Sampler und Drumattacken, Elektroorgien und Geräuschgewitter, e.s.t. hatte in manchen Stücken die kühle Kontrolle des Formalen aufgeweicht. Analog zum Woodstock-Wahnsinn eines Jimi Hendrix zeigt man sich als dessen jazzdigitales Pendant, gibt den Grenzen von Pop und Jazz den finalen Tritt. Von da aus hätte es weitergehen können. Aber im Juni 2008 kam Esbjörn Svensson beim Tauchen ums Leben. Man kann nicht sagen, ob und in welche Richtung sich die Band noch entwickelt hätte. Es mutet nur grotesk an, dass eine der stilistisch prägendsten Formationen einer Jazzgeneration in dem Moment grausam an ein Ende gelangte, als sie sich anschickte, die zu Fesseln gewordene Befreiungstat vergangener Stildiäten neuerlich zu sprengen. Aber das ist jazzmythische Spekulation.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 21.05.2009 | 22:05 Uhr

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