Nida-Rümelin: Demokratie lebt vom offenen Diskurs
Der Münchener Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht die Demokratie in Deutschland durch die Corona-Krise insgesamt nicht gefährdet. Man dürfe aber die Einschränkungen, die beispielsweise die Freiheit der Berufsausübung oder Besuchsverbote von sterbenden Angehörigen betreffen, nicht auf die leichte Schulter nehmen. "Wir brauchen vor allem möglichst früh Licht am Ende des Tunnels. Das heißt, wir müssen Kriterien haben, nach denen wir in Zukunft damit umgehen."
Einen "Lockdown" über zwei oder drei Monate, so Nida-Rümelin, dürfe es im Winter auf keinen Fall geben. "Das wäre eine Katastrophe. Die Europäische Union kann nicht noch mal 750 Milliarden Euro mobilisieren."
Nida-Rümelin: Wir brauchen eine absolut offene Diskussion
Nida-Rümelin betonte, Deutschland sei bislang vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. "Das hängt zu einem sehr hohen Prozentsatz von dem insgesamt vernünftigen Verhalten der Menschen ab." Der Shutdown selbst sei umstritten: Ob er überhaupt nötig gewesen sei, was er gebracht habe. "Und vielleicht werden wir aus der Krise auch lernen, dass dieser globale Lockdown, der den ganzen Einzelhandel betraf, so nicht nötig war und sich auf keinen Fall wiederholen darf." Nida Rümelin verwies darauf, dass wir in einer Unsicherheitssituation seien. Er habe volles Verständnis dafür, dass man dann zu Maßnahmen greife, von denen man noch nicht wisse, ob sie wirklich helfen würden. "Aber das ändert nichts daran: Wir brauchen eine absolut offene Diskussion und müssen auch alles auf den Prüfstand stellen, dass wir in der Zukunft besser durch solche Krisen kommen."
"Der Stresstest ist auch ein Stresstest für die Demokratie"
Auf die Frage, ob die Gesellschaft in der Krise verlernt habe, miteinander ins Gespräch zu kommen, sagte Nida-Rümelin, es wiederhole sich ein wenig das, was wir in der Migrationskrise erlebt hätten: Auch jetzt zerfalle die Gesellschaft in zwei große Gruppen: "Die einen sagen: 'Im Großen und Ganzen ist alles richtig und wir nehmen das auch in Kauf', und eine Minderheit sagt: 'Das geht auf keinen Fall so weiter.'"
In der Migrationskrise habe es - zumindest eine Zeit lang - eine weitgehende Unwilligkeit gegeben, zwischen diesen Auffassungen vermittelnd Stellung zu nehmen. "Es hat eine Menge Diffamierungen, unnötige persönliche Angriffe auch gegen Experten auf beiden Seiten gegeben." Das, so Nida-Rümelin, sollte so nicht fortgesetzt werden. "Die Demokratie lebt vom offenen Diskurs, vom Respekt gegenüber Andersmeinenden." Nida-Rümelin sieht da auch die Medien gefordert. "Keine Abwertung: Bloß weil jemand eine andere Meinung hat, hat er nicht seine Kompetenz verloren. Der Stresstest ist auch ein Stresstest für die Demokratie: Wie ernst wir wir die öffentliche Kultur des Miteinanderumgehens nehmen."
