Ein Seniorin und eine Auszubildende lächeln sich an. © NDR Foto: Anina Pommerenke

Im Tandem durch schwierige Ausbildungen

Stand: 20.05.2021 17:58 Uhr

Viele Auszubildende in Deutschland bringen ihre Ausbildung nicht zu Ende. Das Projekt VerA will mit Hilfe von Mentoring durch Senioren und Seniorinnen für weniger Ausbildungsabbrüche sorgen.

von Anina Pommerenke

Es gibt viele Gründe, eine Ausbildung abzubrechen. Manche Auszubildende merken vielleicht erst im Alltag, dass sie sich einen Beruf anders vorgestellt haben und er einfach inhaltlich nicht zu ihnen passt. Andere kommen mit Vorgesetzten, Kollegen und Kolleginnen nicht zurecht. Manchmal scheitert es jedoch auch an mangelnder Betreuung und Unterstützung. Etwas mehr als ein Viertel der Azubis in Deutschland bringt die Berufsausbildung nicht zu Ende. Das geht aus dem Datenreport 2020 des Bundesinstituts für Berufsbildung hervor. Oft wird die Ausbildung schon im ersten Lehrjahr abgebrochen. Eine abgebrochene oder nicht bestandene Ausbildung bedeutet laut Institut für beide Seiten - die Betriebe und die Auszubildenden - Verlust von Zeit, Energie und Ressourcen. Im schlechtesten Fall ist die Erfahrung so negativ, dass der Betrieb nicht mehr ausbildet oder die Auszubildenden die Lehre komplett an den Nagel hängen. Bei einer Befragung des Bundesinstituts für Berufsbildung gab nur etwa die Hälfte der Abbrecher und Abbrecherinnen an, eine neue Lehre beginnen zu wollen. 14 Prozent fingen ein Studium an. Nur zwei Drittel der Befragten schlug folglich einen neuen beruflichen Weg ein. Die Situation am Ausbildungsmarkt wird zusätzlich verschärft durch die Corona-Pandemie. In Hamburg beispielsweise haben im vergangenen Jahr fast 1.575 meist junge Menschen weniger eine Ausbildung aufgenommen als noch im Vorjahr.

Tandem zwischen Seniorin und Azubi

Eine Seniorin und eine Auszubildende arbeiten konzentriert an einem Berichtsheft. © NDR Foto: Anina Pommerenke
Durch den Beistand ihrer Mentorin hat Auszubildende Arezoo Tajik viel mehr Selbstbewusstsein gewonnen.

Gerade vor dem Hintergrund eines befürchteten Fachkräftemangels wird die Frage immer wichtiger, wie man verhindern kann, dass Ausbildungen abgebrochen oder nicht bestanden werden. Ein Baustein bei dieser Mission ist die Initiative VerA, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. VerA steht für Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen und ist auch in Hamburg aktiv. Dort bilden zum Beispiel die Rentnerin Gabriele Schünemann und die Auszubildende Arezoo Tajik ein Team. Die 21-jährige macht eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten. Sie hat verkürzt – steht kurz vor dem Abschluss. Daran war vor einem Jahr kaum zu denken: "Das Hauptproblem war mein Berichtsheft. Ich wusste nicht, wie man das Berichtsheft ausfüllen muss", erinnert sich Arezoo Tajik. "Auch in der Praxis konnte mir niemand helfen. Die kennen sich auch nicht damit aus. In der Schule wiederum hieß es, das müsse in der Praxis ausgefüllt werden."

Unterstützung auf vielen Ebenen

Auf der Suche nach Unterstützung hatte Arezoo Tajik sich zunächst bei der Jugendberufsagentur gemeldet. Doch ihre Noten waren zu gut, um dort Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Über eine Freundin wurde sie auf die Initiative VerA aufmerksam und schließlich mit Gabriele Schünemann vernetzt: "Das hat mir sehr geholfen. Ich habe das Gefühl, ohne Frau Schünemann hätte ich es nicht geschafft." Gabriele Schünemann hat ihr nicht nur erklärt, wie genau man das Berichtsheft anlegt, mit dem Arezoo Tajik ihre Arbeitsabläufe in der Praxis dokumentieren soll. Die Unterstützung ging - coronabedingt erst am Telefon, später auch bei Spaziergängen – inhaltlich weit darüber hinaus. Arezoo ist noch nicht so lange in Deutschland und hat sich auch bei Schreiben von Behörden hilfesuchend an Frau Schünemann gewandt: "Allein das Gefühl, jemanden an meiner Seite zu haben, der mir hilft, bringt viel. Seitdem ich Frau Schünemann kenne, hat sich vieles bei mir verändert. Dadurch bin ich sicherer und stärker geworden!"

Ein Anzug mit kleinen Schraubenschlüsseln in der Brusttasche © phantermedia Foto: johnkwan
AUDIO: Senioren helfen - Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen (5 Min)

Hilfe zur Selbsthilfe

Gabriele Schünemann hat Pädagogik studiert und 27 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ein Forschungsunternehmen gearbeitet. Dort ist sie das erste Mal mit VerA in Berührung gekommen. Jetzt ist sie im dritten Jahr als Mentorin dabei. Arezoo ist ihr zweites Tandem: "Wir machen nicht die Arbeit für die jungen Menschen, wir machen eine Hilfe zur Selbsthilfe. Sie müssen es letztendlich selber tun. Ich kann nicht für Arezoo lernen, ich konnte nur - so wie alle anderen Senior Experten auch - eine Hilfestellung geben." Für Auszubildende und Betriebe ist der Service kostenlos. Wobei genau die Auszubildenden Hilfe brauchen, wird von Fall zu Fall neu definiert. Manche brauchen Unterstützung zu Beginn der Lehre, andere bei der Abschlussprüfung. Bevor eine Betreuung zustande kommt, formulieren beide Seiten ihre Erwartungen und halten sie in einem Vertrag fest. Um sich auf die Bedürfnisse der Auszubildenden einzustellen, ist auch viel Eigeninitiative gefragt: "Ich habe mir die Ausbildungsverordnung, die Prüfungsordnung und die Stundenpläne runtergeladen und habe mir das einfach angeeignet und gelesen. Alles weitere habe ich durch Diskussionen mit den Azubis gelernt. Ich muss keine Expertin werden. Mit den beiden jungen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, hat das ausgereicht."

Beide Seiten profitieren

Die Initiative VerA gibt es seit 2008 - sie gehört zum Senior Experten Service. Der vermittelt pensionierte Fach- und Führungskräfte aus Deutschland in Entwicklungs- und Schwellenländer. VerA hat rund 80 Standorte in Deutschland. Volker Hiebel hat vor einem Jahr in Hamburg die Organisation übernommen. Etwa 100 Senioren und Seniorinnen sind in der Hansestadt aktiv. Zurzeit gibt es 60 Tandems: "Auszubildende, die wir begleiten, sind zu fast 100 Prozent nicht Deutsche. In Bereichen wie Kultur und Sprache sind oft große Hilfen notwendig", erklärt Hiebel. Seiner Erfahrung nach werden die vertraglich festgehaltenen Erwartungen an die Begleitungen vollständig erfüllt. Er will vor allem noch mehr von den jungen Menschen erreichen, die sich nach dem Abbruch nicht für eine neue Ausbildung oder ein Studium entscheiden. Das soll verhindern, dass sie in der Sozialhilfe landen. Dafür braucht er noch mehr engagierte Senioren und Seniorinnen wie Gabriele Schünemann. Sie findet, dass beide Seiten von dem Programm profitieren: "Jeder Werktätige, der in den Ruhestand geht, nimmt ja ein Know-How an Wissen, Erfahrung und Kompetenzen mit. Die verschwinden irgendwann, werden doch aber gebraucht. Etwas davon den jungen Menschen zurückzugeben, treibt mich auch an. Und ich gebe das gerne, weil's mir einfach Spaß macht!"

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 21.05.2021 | 08:50 Uhr

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