Stand: 18.01.2017 20:50 Uhr

Hören oder sehen: barrierefreies Fernsehen

von Daniel Bouhs

Egal, was die Wissenschaft auch behauptet: Multitasking ist möglich. Für diese Erkenntnis reicht ein Blick in die Untertitelredaktion von ARD Text. Christoph Rewicki bringt hier das gesprochene Wort im Ersten in den Videotext - und das bei vielen Sendungen praktisch auch live, mit lediglich wenigen Sekunden Verzögerung. Dieses sogenannte barrierefreie Angebot vor allem für gehörlose oder schwerhörige Zuschauer heißt für Redakteure wie Rewicki: allerhöchste Konzentration, vor allem bei Sportübertragungen oder Talk-Shows mit spontanen Äußerungen, eben völlig ohne Skript.

VIDEO: Hören oder sehen: barrierefreies Fernsehen (7 Min)

Das Live-Training dauert Monate

Untertitel-Redakteure hören über Kopfhörer, was im Fernsehen gesprochen wird - und das oft auch durcheinander oder mit Dialekt. Die Redakteure sprechen das nacheinander und sprachlich sauber über ein Mikrofon in eine Spracherkennung. Der Computer wandelt das nachgesprochene Wort in Buchstaben - schneller als es über die Tastatur ginge. Während die Redakteure weiter zuhören, was im Fernsehen gesagt wird, sichten sie die Ergebnisse der Spracherkennung und korrigieren bei Bedarf Fehler, bevor sie Untertitel in den Videotext schicken - und so weiter und so fort.

Rewicki berichtet: Untertitel-Redakteure trainieren vor ihrem ersten Live-Einsatz mehrere Monate, damit die Software sie weitgehend fehlerfrei erkennt. Die Technik sei so weit fortgeschritten, dass sie 95 Prozent der Worte erfasse - gänzlich ohne menschliches Zutun könne sie aber noch nicht arbeiten. Vor allem bei hitzigen Diskussionen in Talk-Shows seien aber nicht nur die Technik, sondern auch Redakteure bisweilen überfordert. "Ich muss filtern und sehen, was in dem Moment die wichtigste Aussage ist", sagt Rewicki. Mit anderen Worten: Untertitel transportieren dann nur den Kern der Aussagen, aber nicht jedes Detail.

Inklusionsaktivistin kritisiert Verkürzungen

Die gehörlose Bloggerin und Inklusionsaktivistin Julia Probst. © NDR
Kritisiert zu geringes Angebot: Julia Probst.

Die Bloggerin Julia Probst, die als Lippenleserin von Fußball-Trainern bekannt geworden ist und sich selbst als Inklusionsaktivistin bezeichnet, ist als gehörlose Zuschauerin wiederum auf Untertitel angewiesen - und kritisiert Untertitel, die oft "sehr stark verkürzt" seien. Sie würde den Untertitlern gerne den Druck nehmen, indem etwa Talk-Shows mit einer halben Minuten Verzögerung gezeigt würden: "Die Untertitel-Redakteure könnten live untertiteln, eins zu eins." Anschließend würden die Sendungen im Fernsehen mit den exakten Untertiteln ausgestrahlt.

Die Sender wiederum lehnen diese Praxis mit dem Verweis "live ist live" ab. Für den nachträglichen Abruf von Sendungen wie "Anne Will" würden zudem Untertitel korrigiert. Gleichzeitig haben die Sender ihre barrierefreien Angebote zuletzt teils massiv ausgebaut - nicht zuletzt, weil mit der Umstellung von der Rundfunkgebühr auf den Rundfunkbeitrag Menschen mit Behinderung nicht mehr befreit sind. Die Sender sind seitdem auch - wenn auch vage nach ihren Möglichkeiten - zu mehr barrierefreien Angeboten verpflichtet.

ARD und ZDF müssen Angebot ausbauen

ARD und ZDF untertiteln inzwischen nahezu alle Sendungen (ARD zuletzt 95 Prozent, ZDF 75 Prozent) - Lücken sind einige ältere Produktionen und die Werbung. Bei den Dritten Programmen geht die Untertitelungsquote allerdings noch stark auseinander. Während auch MDR (zuletzt 83 Prozent) und NDR (80 Prozent) fast vollständig untertiteln, liegen andere wie SWR (50 Prozent) und SR (46 Prozent) gerade mal bei der Hälfte. Einzelne Spartensender wie Phoenix haben zudem gerade erst mit der Untertitelung begonnen. Privatsender wie RTL oder ProSieben untertiteln nur wenige Formate.

Größer sind die Lücken bei der sogenannten Audiodeskription, den Hörfassungen von TV-Sendungen mit gesprochenen Bild-Beschreibungen. Sie sollen Menschen, die gar nicht oder nur sehr schlecht sehen, die Möglichkeit bieten, bei Sendungen wie dem "Tatort" mitreden zu können. Die Sender bauen auch diese Angebote aus, verweisen aber darauf, dass sie sehr aufwendig sind.

Mehr Angebote in Gebärdensprache gefordert

Dolmetscherin Christina Müller steht im Studio. Man sieht sie auf dem Display einer Kamera. © NDR Foto: Carolin Fromm
Dolmetscherin Christina Müller übersetzt für den NDR in Gebärdensprache.

Inklusionsaktivistin Probst, die auch für den Hamburger Gehörlosenverband arbeitet, fordert zudem den Ausbau gebärdensprachlicher Angebote. Die Sender bauen sie nur sehr zögerlich aus, weil sie sich auf die Untertitelung als Angebot für Gehörlose geeinigt haben. Phoenix sendet etwa zu den Nachrichten auch Gebärdensprache in einem kleinen Fenster, andere Sender bieten solche Angebote etwa im Netz - der NDR etwa Kindernachrichten, der MDR seine Fernsehnachrichten.

Probst wünscht sich hingegen mehr Sichtbarkeit in den Fernsehprogrammen, zum Beispiel auch bei Sendungen für Kinder. "Es ist sehr wichtig für Kinder, dass sie es sehen können: Meine Sprache wird im Fernsehen gezeigt und ich muss mich dafür nicht schämen", sagt Probst. Umgekehrt könnten auch hörende Kinder sehen, welche Sprache es für hörgeschädigte gibt. "Das wäre für mich Inklusion", mahnte Probst.

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Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 18.01.2017 | 23:15 Uhr