Koloniales Erbe: "Wir wollen Geschichte nicht auslöschen!"
Mnyaka Sururu Mboro kam 1978 als Student aus Tansania nach Deutschland. Seine Großmutter hatte ihm den Auftrag mitgegeben, den Schädel eines Opfers der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika zurück nach Hause zu bringen. Der Schädel ist bis heute nicht aufgetaucht. Aber auch heute, mit 72 Jahren, setzt Mboro setzt sich weiter ein für einen kritischen Umgang Deutschlands mit seiner kolonialen Vergangenheit.
Herr Mboro, in Hamburg aber auch in Berlin wird schon lange gefordert, Straßen mit den Namen deutscher Kolonialisten umzubenennen. In Berlin geht es jetzt aber auch wieder um die "Mohrenstraße" - ein Name, der von vielen als rassistisch empfunden wird. Was fordern Sie, als Sprecher des Vereins "Berlin Postkolonial"?
Wir sprechen da nur von der M.-Straße. Denn es tut weh, im 21. Jahrhundert noch so ein Wort im öffentlichen Raum lesen zu müssen. Wir haben es geschafft, dass das N.-Wort weitgehend geächtet wurde - aber das M.-Wort ist genauso verletzend, weil es uns an die Zeit der Versklavung unserer Vorfahren durch Brandenburg-Preußen erinnert.
Können Sie das erläutern?
Der 1707/08 vergebene Straßenname sollte der Welt zeigen, dass die preußische Königsfamilie in Berlin sogar Menschen afrikanischer Herkunft in ihrem Dienst hatte. Besonders begehrt waren minderjährige Jungen, die natürlich nicht freiwillig nach Berlin kamen, aber von Sklavenhändlern in England, Holland und Norddeutschland "gekauft" werden konnten. Hier wurden sie zu "Hof" - oder "Kammermohren" gemacht und in der Regel auf den Namen ihrer Herren (zwangs)getauft. Das lässt sich in den Kirchenbüchern Berlins nachlesen. Dass der Straßenname sie ehren sollte, ist eine weiße Legende.
Es gibt aber auch die Theorie, dass der Straßenname eine Delegation aus Ghana ehren sollte …
Auch für die Geschichte, dass der Straßenname auf die kleine Delegation aus Brandenburgs Sklavenhandels-Kolonie "Groß-Friedrichsburg" zurückgeht, die über 20 Jahre vor der Benennung nach Berlin kam, um sich dem Kurfürsten zu unterwerfen, gibt es bislang keinen Beleg. Wir von "Berlin Postkolonial" fordern daher schon lange, dass die Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umbenannt wird.
Wer war das?
Amo wurde im 18. Jahrhundert als Kind aus Ghana verschleppt und von den Niederländern an den Herzog von Braunschweig "verschenkt". Er wurde am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel und in Helmstedt ausgebildet, studierte an der Universität Halle und wurde Philosoph und Jurist. Er beschäftigte sich mit der unsicheren rechtlichen Stellung der Schwarzen im damaligen Europa. Nach einer rassistischen Kampagne gegen ihn kehrte er nach Jahrzehnte in Deutschland nach Ghana zurück.
Was sagen Sie zu der Kritik, mit Umbenennungen werde Geschichte ausgelöscht?
Wir wollen Geschichte nicht auslöschen! Wir wollen eine andere als die weiße Geschichte erzählen und bekannt machen. Wir wollen statt einer abwertenden Fremdbezeichnung die Würdigung einer afrodeutschen Persönlichkeit im öffentlichen Raum. Dazu soll es Infotafeln, Ausstellungen und Kunst im Stadtbild geben.
Die Debatte über Deutschlands koloniale Vergangenheit wird im Moment vielleicht intensiver geführt als je zuvor. Was versprechen Sie sich davon?
Ich hoffe, dass die Deutschen langsam verstehen, dass es um symbolische und auch materielle Widergutmachung geht. Überall in Deutschland werden noch Kolonialverbrecher geehrt, indem Straßen nach ihnen benannt sind. Diese Straßen müssen umbenannt werden - nach den Opfern der Deutschen und nach Widerstandskämpfern gegen den deutschen Kolonialismus.
In vielen deutschen Städten tragen Straßen noch die Namen von Akteuren des deutschen Kolonialismus. In Hamburg zum Beispiel heißen gleich mehrere Straßen nach Heinrich Carl Schimmelmann, einem Sklavenhändler im 18. Jahrhundert. In Berlin gibt es immer noch eine Straße, die nach dem Niedersachsen Carl Peters (1856 - 1918) benannt wurde, der als besonders brutaler Kolonialist in die Geschichte einging. Nach Protesten wurde die Straße nach einem ebenfalls Peters heißenden Berliner Lokalpolitiker benannt - der falsche Schritt, findet Mnyaka Sururu Mboro.
Weil hier Geschichte nicht kritisch aufgearbeitet, sondern mit einem Etikettenschwindel unter den Teppich gekehrt wird. Die ganze Wahrheit über diese Zeit mit ihren schwerwiegenden Folgen für unsere Gegenwart muss endlich ans Licht. Statt eines fortgesetzten Verdrängens fordern wir symbolische Wiedergutmachung durch Aufklärung und die Würdigung von Persönlichkeiten des antikolonialen Widerstands.
2018 hat das Bezirksamt beschlossen, einen Teil der Straße in Maji-Maji-Allee umzubenennen …
Damit soll an einen großen Aufstand gegen die Deutschen in der damaligen Kolonie Ostafrika erinnert werden. Aber der Beschluss wurde immer noch nicht umgesetzt.
Sie selbst kamen 1978 nach Berlin mit einem besonderen Auftrag. Was hat es damit auf sich?
Ich bin in Tansania geboren. Tansania war vom späten 19. Jahrhundert bis 1919 eine deutsche Kolonie und wurde "Deutsch-Ostafrika" genannt. Ich hieß als Junge noch Ludwig, alle Kinder bekamen christliche Namen. 1968 habe ich diesen blöden Namen abgelegt und die Namen meiner Großeltern angenommen. Als ich als Student nach Deutschland ging, gab meine Oma mir einen Auftrag mit: Ich sollte den Kopf unseres von den Deutschen ermordeten Fürsten Mangi Meli zurück in seine Heimat bringen.
Was war genau passiert?
Der Mann wurde mit vielen anderen Adligen aus der Kilimandjaro-Gegend von den Deutschen gehängt. Sein Kopf wurde abgetrennt und für rassistische Untersuchungen oder als Trophäe nach Deutschland verschifft.
Sie kamen also in eine fremde Stadt mit der Aufgabe, diesen Schädel zu finden. Wie haben Sie die Suche angefangen?
Ich wusste erst gar nicht wo ich hingehen soll. Kommilitonen haben mir geholfen, Kirchenleute haben Tipps gegeben, wo ich nachfragen muss. Doch keiner fühlte sich zuständig, die Sammlung waren schlecht dokumentiert, der Zutritt oft nur für Wissenschaftler möglich, die an unseren Ahnen Forschung betreiben wollten. Der Kopf mangi Melis - ich spreche nicht gern von einem Schädel - ist bis heute nicht aufgetaucht. Vor zwei Jahren hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Gebeine von rund 250 Ahnen aus Tansania untersucht. Aber die DNA der in Frage kommenden Häupter passte nicht zu der Person, die ich suche.
Wie geht es Ihnen damit?
Meine Oma ist schon lange tot, aber der Auftrag, das Haupt zu finden, gilt weiterhin für mich. In Tansania gibt es heute noch Gräber von Hingerichteten, die gepflegt werden in der Erwartung, dass der Kopf des Menschen, dessen unvollständiger Körper dort begraben ist, eines Tages zurückkehrt. Ich werde auch immer wieder gefragt: Wann kommen die Ahnen zurück? Dass sie weiter in irgendeinem Regal in einem Keller irgendwo in Deutschland liegen sollen, ist den Menschen in Tansania unbegreiflich.
Sie haben 2005 zum ersten Mal mit Mitgliedern der tansanischen Community einen Trauermarsch in Berlin organisiert.
Hundert Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands wollten wir an unsere Vorfahren erinnern, die von deutschen Kolonialverbrechern getötet worden sind.
Der Maji-Maji-Aufstand im damaligen Deutsch-Ostafrika gilt als einer der größten Kolonialkriege in der Geschichte des afrikanischen Kontinents ...
In Tansania haben die Deutschen Landraub betrieben, haben die Menschen gezwungen, auf Plantagen zu arbeiten, haben die einheimische Wirtschaft zerstört. Als die Menschen sich dagegen wehrten, im Maji-Maji-Aufstand, haben die Deutschen den Aufstand brutal unterdrückt, haben nach der Strategie der "Verbrannten Erde" alle Lebensgrundlagen der Menschen zerstört. Die Zahl der Toten wird auf 300.000 geschätzt, aber wir wissen, dass es noch mehr waren.
Aber es geht nicht nur darum, dass viele menschliche Überreste immer noch irgendwo in Deutschland gelagert werden. Es geht auch um Kulturgüter, die Deutschland zurück geben muss. Kultgegenstände, die damals einfach mitgenommen wurden. Stellen Sie sich vor, jemand geht in Deutschland in eine Kirche und reißt den Altar heraus und nimmt ihn mit. So fühlte und fühlt sich das an für die Menschen in Tansania und anderen Ländern.
Wie wird der deutsche Kolonialismus im Schulunterricht vermittelt?
Als wir vor rund 15 Jahren zum ersten Mal diesen Trauermarsch organisiert haben, merkten wir: Das Thema kommt im deutschen Schulunterricht überhaupt nicht vor. Deshalb haben wir den Verein "Berlin Postkolonial" gegründet. Es muss klar gemacht werden, welche Verbrechen die Deutschen in Tansania und in den anderen Kolonien begangen haben.
Wie ist heute das Interesse an dem Thema?
Wir bieten Rundgänge an, um den Menschen zu erklären, wo in Berlin bis heute die Spuren des Kolonialismus zu sehen sind. Und wir bekommen viele Anfragen von jungen Erwachsenen. Das Interesse ist also gewachsen.
Reicht das für eine nachhaltige Aufarbeitung?
Nein. Wenn Sie sich den Neubau des Berliner Schlosses als "Humboldt-Forum" anschauen: Da ist das Schloss einer Herrscherdynastie wiederentstanden, die mitverantwortlich ist für Sklavenhandel, Kolonialismus und Völkermord. Es heißt jetzt nach einem Kolonialforscher und Schädeldieb.
Humboldt war ja ein erklärter Gegner der Sklaverei - warum sehen Sie ihn dennoch so kritisch?
Humboldt selbst berichtet ja stolz davon, dass seine Erforschung Südamerikas für das spanische Kolonialregime von großem Nutzen gewesen wäre. Weniger stolz gesteht er, dass er aus wissenschaftlichem Interesse vor Ort auch eine Grabhöhle der Atures entweiht und ungeachtet ihres Protestes sogar einige Ahnen gestohlen hat. Im Inneren des Forums finden Sie dann die königlichen Sammlungen, die in aller Welt zusammengeraubt wurden. Und oben drauf das Kreuz derjenigen, welche die Welt kolonisiert haben. Ursprünglich sollte das Thema Kolonialismus gar nicht vorkommen im Humboldt-Forum, erst durch unseren Protest und den anderer Aktivisten haben die Verantwortlichen ihr Konzept nun verändert. Aber für mich bleibt das Ganze ein riesiges Kolonialdenkmal, egal was sie tun.
Das Gespräch führte Lennart Herberhold
