Gewalt, Drogen, Kälte und Konkurrenz um die täglichen Dinge des Lebens: Für die beiden Obdachlosen Werner und Jacky ist jeder Tag ein zermürbender Überlebenskampf. Urlaub von diesem harten Alltag? Das ist für Menschen wie sie undenkbar. Deswegen bietet die Diakonie in Hamburg eine Ferienreise für Obdachlose an.
Ständiger Überlebenskampf
"Lasst ihr mir ein bisschen Trinkgeld übrig?", ruft Jacky den vorbeieilenden Restaurantgästen zu. Werner und Jacky sitzen im Nieselregen vor einem Edellokal in der Hamburger Schanzenstraße. Der Alltag der beiden seit vielen Jahren Obdachlosen ist geprägt von einem ständigen Überlebenskampf: Wie komme ich an Geld? Wo kann ich sicher schlafen? Wie kann ich meine wenigen Besitztümer schützen?
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Obdachlosen in Hamburg fast verdoppelt. Jacky und Werner versuchen zusammenzuhalten, denn die Konkurrenz um die täglichen Dinge des Lebens wird immer härter.
Hintergrund
Fast jeden Winter erfrieren Obdachlose. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, wie man den Menschen, die auf der Straße leben, helfen kann.
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Urlaub in Schleswig-Holstein
"Gerade diese Menschen brauchen mal eine Auszeit von ihrem belastenden Alltag", sagt der Sozialarbeiter Uwe Martiny von der Hamburger Diakonie. Deswegen wird von der Einrichtung seit Jahren eine Urlaubsreise an den Ratzeburger See in Schleswig-Holstein angeboten. In der Ruhe der Natur sollen sich die Obdachlosen für eine Woche lang geistig und körperlich erholen können und Kraft tanken, vielleicht sogar für einen Neuanfang.
Jacky und Werner sind zum ersten Mal mit dabei. Die NDR Reportage Autoren Julian Amershi und Marie Löwenstein haben die beiden in ihrem Alltag auf der Straße und bei der Reise begleitet. Ein Bett, eine Dusche, tägliches Essen und der Blick ins Grüne anstatt Asphalt, Schmutz, Lärm und Elend: Die beiden 50-Jährigen, der eine war früher Metzger, der andere Tischler, genießen die Auszeit und werden doch an ihr Limit kommen. Denn sie sind schwer alkoholkrank. Und auf der Reise ist Hochprozentiges nicht erlaubt.
Obdachlose fahren in den Urlaub
Werner und Jacky sind seit Jahren obdachlos. Seitdem Jacky vor zwei Jahren aus Nürnberg nach Hamburg kam, sind die beiden ein Team. Sie wollen bei einem Projekt der Diakonie mitmachen und zusammen in den Urlaub fahren.
Veranstaltet wird die Reise von der "TAS - Tagesaufenthaltsstätte", einer Einrichtung für Obdachlose der Diakonie. Sozialarbeiterin Ellen Debray wird die Teilnehmer begleiten und hilft ihnen, neue Klamotten für die Reise auszusuchen.
Ellen packt für alle Reiseteilnehmer Bettzeug und Duschgel ein. "Bei einigen ist es so, dass man auch vor Ort auf die Hygiene hinweisen muss. Das ist doch ein bisschen wie verlernt, weil man es nicht mehr gewohnt ist, dass man die Dusche direkt vor der Nase hat."
Neben Jacky und Werner haben sich noch 18 weitere Obdachlose für die Reise angemeldet. Reiseleiter Uwe Martiny erklärt den beiden die Regeln: Um neun gibt es Frühstück. Tagsüber wird kein Alkohol getrunken, nur Abends darf es mal ein Bier sein. Schnaps ist verboten.
Direkt am Ratzeburger See liegt das Freizeitheim Beek. Es ist nur 65 Kilometer von Hamburg entfernt, aber dennoch wie eine andere Welt für die Teilnehmer - und ihr Zuhause für eine Woche.
Schon seit Jahren wird diese Urlaubsreise an den Ratzeburger See von der Diakonie angeboten. In der Ruhe der Natur sollen sich die Obdachlosen für eine Woche lang geistig und körperlich erholen können und Kraft tanken.
Ellen und Uwe verteilen die Schlüssel. Alle müssen die nächsten Tage mitarbeiten. Das soll Struktur im Tagesablauf schaffen und die Gemeinschaft fördern.
Ein eigenes Zimmer, das man abschließen kann: ein sicherer Ort, ein eigenes Bett. Für diese Woche sind Jacky und Werner nicht Obdachlose, sondern Gäste. 120 Euro kostet der Urlaub pro Person, finanziert aus Spenden.
Morgens wird zusammen ausgiebig gefrühstückt. Durch den Rhythmus und die Sicherheit des Hauses sollen sich die Obdachlosen geistig und körperlich erholen und Kraft tanken können.
Einer der Programmpunkte ist eine Fahrradtour um den See. Es können allerdings nicht alle Teilnehmer mitkommen, denn viele von ihnen haben gesundheitliche Probleme. Das Leben auf Straße hat sie krank gemacht.
Jacky und Werner fühlen sich nicht fit genug für die Fahrradtour. Doch dafür genießen sie die Natur auf einem Spaziergang. Werner wurde schon zwei Mal am Herzen operiert. Das Leben auf der Straße hat seine Spuren hinterlassen.
Jacky hat früher Metzger gelernt und eine Kochlehre angefangen. Mittlerweile hat er Kochen zu seinem Hobby gemacht und genießt es, für die anderen Teilnehmer eine Mahlzeit zuzubereiten.
Während Jacky den Salat macht, grillen die anderen das Fleisch. Eine warme Mahlzeit am Tag ist für viele Teilnehmer ein Luxus.
In Sicherheit schlafen, Gemeinschaft und Struktur erleben: Alles das gibt den Obdachlosen ein bisschen Leichtigkeit und Kraft. Nach dem Urlaub müssen sie wieder zurück auf die Straße. Mit Glück aber nicht lange.
Spiegelbild der Realität
Man lernt auch die anderen Teilnehmer der Reise kennen, die fast alle Osteuropäer sind. Es ist ein Spiegelbild der Realität, denn ein Großteil der Obdachlosen auf deutschen Straßen stammt mittlerweile aus Ländern wie Polen, Rumänien oder Ungarn. Die meisten kommen auf Arbeitssuche hierher und stranden irgendwann auf der Straße, erzählt die Betreuerin Ellen Debray von der Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie in Hamburg. Ellen hat täglich mit diesen Menschen und ihrem Elend zu tun. Auf der Reise lernt sie sie von einer anderen Seite kennen - als humorvoll, hilfsbereit und freundlich.
Am Ratzeburger See kommen die Obdachlosen zur Ruhe. Für diese Reportage geben sie berührende Einblicke in ihre Geschichte sowie eine Welt, die für die meisten Menschen so fremd wie abschreckend ist.
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