Thomas Hengelbrock im Gepräch

NDR: Wie würden Sie persönlich die Rolle eines modernen Orchesterleiters definieren?

Als Primus inter Pares bewies der hochgewachsene Musiker in einem begeisternden Konzert, wie aufregend Klassikkost sein kann. "Hamburger Abendblatt":

Hengelbrock: Es gibt wohl kaum einen Beruf, der von den ihn Betreibenden so unterschiedlich verstanden und ausgeübt wird. Mein künstlerischer Werdegang ist durch den "Primus inter pares"-Gedanken geprägt: Jemand muss eine starke, überzeugende, am besten mitreißende Idee haben, welche dann möglichst alle Musiker gemeinsam umsetzen und weitertragen. Diese Übereinstimmung muss immer wieder neu gewonnen werden; jedes Orchester ist ein hochkomplexes, bisweilen auch fragiles Gebilde. Eine Hundertschaft von höchstqualifizierten Musikerpersönlichkeiten muss zehntelsekundengenau zusammenspielen, zusammenatmen, zusammenfühlen. Das ist eine große und großartige Herausforderung für alle und natürlich auch für mich als Dirigent.

NDR: Als ausgebildeter Geiger kommen Sie selbst aus der solistischen und der orchestralen Praxis. Ist das eine Hilfe für das partnerschaftliche Musizieren mit einem Orchester, wenn man sozusagen auch "die andere Seite" genau kennengelernt hat?

Thomas Hengelbrock  Foto: Sonja Werner
Thomas Hengelbrock ist für spannungsreiche und außergewöhnliche dramaturgische Ideen bekannt

Hengelbrock: In der Tat kommt mir meine Tätigkeit als Geiger in vielen Orchestern und Kammermusikensembles zugute. Als Dirigent läuft man Gefahr, sich bisweilen vom Orchester und dessen Bedürfnissen abzukoppeln, weil die Konzentration auf das Werk und auf sich selbst als dirigierendes "Medium" alle anderen Dinge und Aufmerksamkeiten absorbiert. Da ich früher als Konzertmeister den Dirigenten ein zwar wohlgesonnener aber auch stets kritischer musikalischer Begleiter war, fragt auch heute immer wieder der "Geiger" Hengelbrock den "Dirigenten" Hengelbrock: "Ist deine Vorstellung klar und deutlich? Hast du genug Energie und Feuer, um mich mitzureißen? Benimmst du dich kollegial und anständig? Langweilst du mich auch nicht?"

NDR: Wie würden Sie das Ideal Ihres Musizierens benennen - gibt es ein solches überhaupt?

Hengelbrock: Ich trage ganz sicher das Bild einer idealen Vorstellung, eines idealen Konzertes in mir, ohne es jedoch genau in Worte kleiden zu können. Musik überflutet machtvoll und bisweilen mit bestürzender Intensität die Grenzen unserer Sprache, sprengt uns geradezu aus unserer kognitiven Verankerung frei. Im geglückten Konzert hebt sich die Differenz zwischen Musikern und Zuhörern auf, die Musik kann ihren ganzen Zauber entfalten und uns zu neuen Ufern tragen. Aber letztlich können wir das, was da passiert - und was uns dann alle so unsagbar beglückt - nur mit dürren Worten umkreisen, es bleibt immer ein Geheimnis.

Wie Frischverliebte [...] präsentieren sich das NDR Sinfonieorchester und sein designierter Chef Thomas Hengelbrock im Kieler Schloss. Da liest man sich musikalische Wünsche von den Augen ab, musiziert schmeichelnd, mit Elan, unter Aufbietung aller Gefühls- und Intelligenzkräfte. "Kieler Nachrichten":

NDR: Was ist Ihnen für die nächste Zukunft bei der Arbeit mit dem NDR Sinfonieorchesters wichtig, und welche Ziele wollen Sie erreichen?

Hengelbrock: Mein wichtigstes Ziel ist, dass die Musiker des Orchesters aus eigener Überzeugung und mit innerer Beteiligung spielen. Wenn bloß Anweisungen eines Dirigenten mechanisch umgesetzt werden, schöpft kein Orchester sein Potenzial aus; wir brauchen gemeinsame musikalische Grundlagen, die von allen mitgetragen und verinnerlicht werden. In unserer ersten Saison stehen viele Werke mit vokaler Beteiligung auf dem Programm. In der Zusammenarbeit mit Sängern können wir besonders gut an den wichtigsten Parametern arbeiten: Phrasierung, Atmung, Textausdeutung, Affektdifferenzierung, Farbgebung, Balance, Intonation. Je aufmerksamer die Musiker aufeinander hören, desto besser und lustvoller wird das gemeinsame Spiel.

NDR: Neu wird sein, dass Sie selbst vor Ihren Konzerten Einführungen in die Programme geben. Was wird die Zuhörer dabei erwarten?

Dirigent Thomas Hengelbrock im Porträt © NDR Foto: Jim Rakete
Einführungen vom Chef persönlich: Thomas Hengelbrock wird vor jedem seiner Konzerte eine Einführungsveranstaltung geben

Hengelbrock: Es werden keine musikwissenschaftlichen Vorträge, sondern freie Einführungen in die Programme sein. Ich werde den genauen Ablauf jeweils spontan gestalten, sicher auch Erfahrungen aus den vorangegangenen Proben mit hineinnehmen und mir bisweilen auch Gesprächspartner dazu einladen. Vielleicht gelingt es, durch den einen oder anderen Hinweis die Ohren der Zuhörer weiter zu spitzen und ihre Vorfreude noch weiter zu steigern.

Das Gespräch führte Dr. Richard Armbruster.

Orchester und Vokalensemble