Stand: 02.03.2015 10:00 Uhr

Nachgefragt: Jörg Widmann

Jörg Widmann hinter einem Schreibtisch stehend © Schott Verlag Foto: Marco Borggreve
Komponist und Klarinettist Jörg Widmann wurde für sein kompositorisches Schaffen bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Jörg Widmann ist Komponist, Klarinettist, Hochschullehrer und Dirigent. Am 12., 14. und 15. März spielt das NDR Sinfonieorchester unter Leitung von Chefdirigent Thomas Hengelbrock sein Werk "Dunkle Saiten" für Cello und Orchester. Wie dieses Werk entstand, was ihn persönlich antreibt und warum das Hamburger Publikum sich einfach verführen lassen sollte, das erzählte er uns in einem Gespräch vorab.

Herr Widmann, Sie sind geradezu unfassbar aktiv als Komponist, Klarinettist und Hochschullehrer. Warum wollten Sie sich nie auf eine dieser Tätigkeiten festlegen?

Jörg Widmann: Ich habe es mir nie anders vorstellen können. Für mich sind all diese Dinge im Prinzip ein und dasselbe: nämlich Musik. Mich mit meinem Atem sozusagen in die Klarinette zu "verströmen" und mit wunderbaren Kollegen gemeinsam zu musizieren brauche ich genauso wie die einsamen Phasen, wo ich die Tür hinter mir zu mache und das nächste Orchesterstück oder die nächste Oper komponiere. Das Unterrichten wiederum ist mir im Lauf der letzten Jahre sehr ans Herz gewachsen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nach 14 Jahren als Professor für Klarinette und seit einigen Jahren auch für Komposition an der Freiburger Musikhochschule zurzeit ein vierjähriges Sabbatical einlege, um mich mehr dem Komponieren, Musizieren und zunehmend auch dem Dirigieren widmen zu können.

Sie sprachen von der Einsamkeit, die man zum Komponieren braucht. Wie finden Sie bei Ihrem vollen Terminkalender überhaupt diese Zeit und Ruhe? Wie schaffen Sie sich kreative Räume?

Widmann: Vor allem damals, als ich das Werk "Dunkle Saiten" geschrieben habe - es ist ja eines meiner frühesten Orchesterstücke überhaupt-, aber auch bis heute ist es meistens die Nacht, wo der Großteil meiner Stücke entsteht. In der Nacht klingelt kein Telefon, da ist es still, da ist ein kleines Knacken im Holz schon geradezu eine Erschütterung. Und genau diese Abgeschiedenheit brauche ich beim Komponieren. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie etwa Dmitrij Schostakowitsch bei laufendem Radio oder in einer Bar zu instrumentieren.

Teilen Sie denn auch die Faszination der Romantik am Nächtlichen und Dunklen?

Widmann: Zumindest, wenn man dies wie beispielsweise Novalis auch auf einer psychologischen Ebene sieht: das Nächtliche als das Verborgene, das eigentlich subkutan immer da ist, aber von unserer taghellen, geschäftigen Welt notgedrungen unterdrückt wird. Dieser Aspekt spielt insbesondere in meinem Stück "Dunkle Saiten" eine wichtige Rolle, wo es fast ausschließlich um ein manisches Umkreisen dieser psychologischen "Nachtzeiten" geht. Sicherlich kann man das noch in einem romantischen Sinne verstehen, auch wenn es hier natürlich zu einem extremen Punkt gebracht wird.

Aus früheren Jahrhunderten fällt mir da höchstens noch die Sechste Sinfonie von Gustav Mahler ein, die in Mahlers eigenen Worten damit endet, dass ein Held "gefällt" wird. Auf andere, fast theatralische Weise geschieht so etwas auch in "Dunkle Saiten": Nachdem der Cellist über 30 Minuten lang pausenlos, eben "manisch" im Einsatz war, ist er am Ende ganz sicher nicht der strahlende Sieger in einem konzertierenden Wettstreit. Jener drastische Moment, in dem er aufhört zu spielen und noch seine tiefste Saite nach unten stimmt, ist vielmehr so etwas wie ein Akt der Selbstaufgabe.

"Dunkle Saiten"geht aber nicht nur psychologisch in die Extreme, sondern auch hinsichtlich der Besetzung und zeitlichen Ausdehnung. Das Stück – ein Cellokonzert mit zwei zusätzlichen Gesangssolisten – dauert rund 45 Minuten, nimmt also eine komplette Konzerthälfte ein. Für viele Konzertbesucher mag das zunächst abschreckend klingen. Was antworten Sie?

Widmann: Das Hamburger Publikum weiß, dass es Thomas Hengelbrock und seinen Musikern vollkommen vertrauen kann! Zugegeben, das Stück ist nicht einfach zu hören und mutet dem Hörer einiges zu. Aber wenn man von diesen fantastischen Interpreten, diesen "Verführern" auf die Reise mitgenommen wird, dann bekommt man ganz bestimmt auch etwas zurück, dann lässt man sich gerne auch im besten Sinne des Wortes schockieren. Denn letztlich sind es wohl die innerlich aufwühlenden Erlebnisse, die uns im Idealfall anders in die Welt sehen lassen. Das kann ich mir natürlich nur wünschen! In Hamburg aber habe ich übrigens sowieso immer die schönsten Erfahrungen gemacht; das Publikum ist dort so aufmerksam, dass ich ihm einiges zutraue.

Im Konzert mit dem NDR Sinfonieorchester wird "Dunkle Saiten" der Fünften Sinfonie von Ludwig van Beethoven gegenüber gestellt. Was halten Sie von dieser Kombination?

Widmann: Als ich das gehört habe, war ich schockiert und begeistert zugleich. Natürlich spielt in Beethovens Fünfter Sinfonie das Prinzip "per aspera ad astra" eine große Rolle, also die Möglichkeit, nach einer langen Reise durchs Dunkel ein Licht am Ende des Horizonts zu erblicken. Ich kenne kaum ein erschütternderes Stück als gleich den ersten Satz: Wie einem da in finsterem c-Moll, in ebenfalls manischem Umkreisen desselben, dieses Viertonmotiv geradezu um die Ohren gehauen wird! Da wird ja der Konsens eines zivilisierten Umgangstons vollkommen aufgekündigt, und das hat über die Jahrhunderte überhaupt nichts von seinem Stachel eingebüßt. Dennoch muss im einvernehmlichen Verständnis der damaligen Zeit am Ende der Sieg über die Dunkelheit errungen werden, bei Beethoven herausgepeitscht in strahlendem C-Dur, übrigens mit einem – und das ist ja der geniale Wahnsinn! – völlig banalen und vulgären Revolutionslied …

Meinem Stück dagegen wird nach ebenso dunklen und quälenden Tönen ein Triumph versagt. Es geht, glaube ich, nicht ins Licht, oder doch? Wenn die Sängerinnen aufgehört haben und das Cello diesen Choral spielt: Auf gewisse, ambivalente Weise entschwebt dann auch "Dunkle Saiten" in eine andere Welt hinein. Es ging mir schon auch um eine – wenn auch ganz anders als bei Beethoven geartete – Utopie: dass da etwas leicht wird, was vorher immer dunkel und schwer war…

Aus allem, was Sie sagen, spricht ganz offenbar auch eine große Begeisterung für die Musik der Vergangenheit. Mögen Sie uns zum Schluss noch die berühmte Frage nach den Werken für die einsame Insel beantworten?

Klarinettist und Komponist Jörg Widmann. © Axel Nickolaus Foto: Axel Nickolaus
Mozart und Schumann würde Jörg Widmann auf seiner einsamen Insel nicht missen wollen.

Widmann: Ganz spontan: Ich würde nicht verzichten wollen auf die "Gran Partita" von Mozart – da spreche ich zugegebenermaßen vor allem auch als Klarinettist. Mozarts Klarinettenkonzert würde ich dagegen wohl nicht auf die einsame Insel mitnehmen, weil ich es ohnehin durch mein ganzes Leben tragen darf. Neben Mozart'schen Werken müsste aber unbedingt auch Schumann, am besten einfach der gesamte Schumann dabei sein. Und von Alban Berg die Klarinettenstücke op. 5 – vielleicht die größte Musik des 20. Jahrhunderts. Ach ja, und von Miles Davis "Take It or Leave It" von der "Bitches Brew"-Platte. 

Das Gespräch führte Julius Heile.

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