Abtreibungsrecht nach 1990: Der erbitterte Streit um Paragraf 218

Stand: 06.08.2023 20:50 Uhr

Der Einigungsvertrag ließ 1990 die Abtreibungs-Frage offen. Erst 1992 entschied sich eine Bundestagsmehrheit für die sogenannte Fristenlösung.

von Jette Studier

Es sind Welten, die nach 1990 in Ost- und Westdeutschland aufeinanderprallen - auch in der Abtreibungsfrage. Soll eine Frau über einen Schwangerschaftsabbruch allein entscheiden können, ohne eine Strafe befürchten zu müssen - so, wie in der DDR seit der Legalisierung 1972? Oder soll Abtreibung weiter grundsätzlich illegal sein und nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben - so, wie es in der Bundesrepublik der Fall war? Drei Jahre lang streiten Frauenbewegung und Kirchen, Politiker in Ost und West erbittert darüber, welches Gesetz im vereinten Deutschland gelten soll.

Frauenbewegung in Bonn und Berlin auf der Straße

Die gesamtdeutsche Frauenbewegung entdeckt das Thema schnell für sich. Im Sommer 1990 gehen Aktivistinnen in Bonn und Berlin gemeinsam auf die Straße. Mit Bannern wie "Kein Paragraf 218 in Ost und West" machen sie ihr gemeinsames Ziel klar: Den umstrittenen Paragrafen im Strafgesetzbuch abzuschaffen. Stattdessen setzen sie sich für die sogenannte "Fristenlösung" ein, wie sie in der DDR galt. In Schwerin engagiert sich Angela Breda-Otto damals in der Alternativen Fraueninitiative: "Es war das Aufsetzen von etwas, das wir nicht gewohnt waren", sagt sie über ihre Motivation, gegen West-Paragrafen zu rebellieren. Dabei erleben sie und ihre Mitstreiterinnen Beschimpfungen und auch Angriffe: "Uns wurden Flugblätter aus der Hand geschlagen", erinnert sie sich. Mit Demonstrationen wie diesen und Unterschriftenaktionen versuchen Aktivistinnen wie sie, den Paragrafen 218 zu verhindern.

Kirchen eröffnen Beratungsstellen

Derweil entstehen oft auf Initiative der Kirchen in der ehemaligen DDR Beratungsstellen für Frauen, die ungewollt schwanger sind. In Ludwigslust führt Birgitt Flögel für den Sozialdienst Katholischer Frauen Gespräche mit Betroffenen, die in dieser Konfliktsituation Hilfe suchen. Das Angebot ist damals noch freiwillig, das Ergebnis des Gesprächs offen. Am Ende soll die Frau selbstbestimmt entscheiden: "Das war für mich auch eine Entlastung, zu sagen, ich muss die nicht erziehen oder irgendwo hin beraten." Die Katholikin findet diese Gespräche damals wichtig. Sie seien für die Frauen ein "Moment der Besinnung" gewesen. Die Legalisierung des Abbruchs - in der sonst so vormundschaftlichen DDR - ist für sie aus heutiger Sicht widersprüchlich: "Die Leute hatten ihren Spaß und hatten das Gefühl, sie bestimmen - an einem Ort, wo sie sonst eigentlich nie bestimmen konnten."

Entscheidung fällt im Juni 1992

Im Einigungsvertrag bleibt die Frage, welches Gesetz künftig gelten soll, zunächst unbeantwortet. Es gilt ein Kompromiss, in Ost und West bleiben die Regelungen vorübergehend bestehen. Nur eine Frist gibt es: Der gesamtdeutsche Bundestag soll bis Ende 1992 eine gemeinsame Lösung finden. In der Nacht des 26. Juni 1992 - nach einer 16-stündigen Marathonsitzung - ist es so weit: In Bonn stehen sich im Wesentlichen zwei große Lager gegenüber. Auf der einen Seite ein Großteil der Unionsfraktion, darunter auch die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel (CDU). Sie wollen, dass Abtreibungen rechtswidrig bleiben. Die Entscheidung darüber, ob ein Abbruch in den ersten zwölf Wochen durchgeführt werden darf, kann nach ihrer Vorstellung letztendlich nur ein Arzt treffen.

Fristenlösung setzt sich durch

Auf der anderen Seite stehen neben Abgeordneten von SPD und FDP allerdings auch einige Unionsabgeordnete, am prominentesten die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU). Sie wollen eine sogenannte "Fristenregelung" durchsetzen. Der Abbruch soll nach einer verpflichtenden Beratung in den ersten zwölf Wochen nicht rechtswidrig sein. Ihre Seite wird sich in der Abstimmung gegen ein Uhr nachts überraschend deutlich durchsetzen: 357 Ja-Stimmen gegen 284 Nein-Stimmen. Doch Realität wird diese Entscheidung nie. Ein knappes Jahr später kippt das Bundesverfassunsgericht das Gesetz. Die Begründung der Richter: Das ungeborene Leben werde im Gesetz nicht genügend geschützt. Der Schwangerschaftsabbruch müsse weiter grundsätzlich als Unrecht gelten.

Historikerin: Fortschreibung des Systemwettkampfs

Die Historikerin Jessica Bock hat sich mit der gesellschaftlichen und politischen Debatte um das Abtreibungsrecht wissenschaftlich auseinandergesetzt: "Mein Eindruck ist, dass der Kampf um den Paragraf 218 auch nochmal eine Fortschreibung der Systemwettkämpfe war", sagt sie. "Das, was in der DDR galt, und sei es noch so fortschrittlich gewesen, durfte nicht weiter bestehen, weil der Westen - in Anführungszeichen - gesiegt hatte." Für die Frauen in Ostdeutschland verschärft sich damit das Gesetz. Und es verpflichtet nun auch sie zum Beratungsgespräch - mindestens drei Tage vor einem Abbruch.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar"

Susanne Lubig führt diese ersten Schwangerschaftskonfliktberatungen durch. Sie bestätigt, dass viele Frauen die Pflicht damals ablehnten. Trotzdem findet sie es auch heute noch richtig, dass der Abbruch grundsätzlich verboten blieb - und nicht wie in der DDR legal wurde: "Die Würde des Menschen ist unantastbar und da kann ich nicht sagen, da nehme ich mal einen kleinen Zeitraum raus am Anfang. Und irgendwann nehme ich auch mal einen kleinen Zeitraum raus am Ende. Das geht nicht", sagt sie. 

Beratungsschein erst im zweiten Anlauf

Angela Breda-Otto, die gegen den Paragraf 218 protestierte, sagt dagegen, sie sei damals enttäuscht, wütend und frustriert vom Urteil und der neuen gesamtdeutschen Gesetzgebung gewesen. Die Schwerinerin wird kurz darauf selbst ungewollt schwanger, fühlt sich bei der Pflichtberatung vor ihrem Abbruch unter Druck gesetzt. Ihr wird zunächst sogar der Beratungsschein verweigert. Erst bei einem zweiten Gespräch mit einer anderen Beraterin bekommt sie ihn ausgestellt. Noch heute sieht Angela Breda-Otto eine in der Umbruchszeit verpasste Chance: "Das, was wir in der DDR hatten, war ein Fortschritt", meint sie, "das, was wir jetzt haben, ist deutlich ein Rückschritt". Der Paragraf 218 steht weiterhin im Strafgesetzbuch. Mittlerweile gilt er seit 30 Jahren auch wieder für die Frauen in Ostdeutschland.

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Nordmagazin | 06.08.2023 | 19:30 Uhr

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