Polizei nennt Nationalitäten regional sehr unterschiedlich

Stand: 09.02.2021 17:00 Uhr

Eine Datenanalyse von Hunderttausenden Polizeimeldungen zeigt: Regional gibt es große Unterschiede, wie die Polizei mit der Nennung von Nationalitäten umgeht. Lüneburg und Mecklenburg-Vorpommern stechen heraus.

von S. Eckert, J. Strozyk, I. Bafas, E. Harlan, S. Khamis, O. Schnuck, R. Schöffel

Unter den Bundesländern gibt es keine einheitliche Linie, wie die Polizei mit der Nennung von Nationalitäten umgeht. Selbst innerhalb der Länder nennen einige Polizeidienststellen die Staatsangehörigkeit von Personen in Pressemeldungen wesentlich häufiger als andere. Manche erwähnen die Nationalitäten fast nie, andere in fast jeder vierten Meldung. Auch in den Nord-Länder verfolgen die Pressestellen der Polizeien unterschiedliche Strategien. Das ist das Ergebnis einer Auswertung von BR und NDR von Hunderttausenden Polizei-Pressemeldungen aus den Jahren 2014 bis 2020.

Die Datenauswertung zeigt auch: Menschen aus Afghanistan, Algerien, der Türkei und Syrien sind in den Pressemitteilungen deutlich überrepräsentiert. Untersucht wurden die 20 Nicht-EU-Nationalitäten, die am häufigsten in den Polizeimeldungen erwähnt wurden. Darunter sind auch die häufigsten Herkunftsländer von Geflüchteten. Die Staatsangehörigkeit von Menschen aus diesen 20 Ländern wird im Vergleich zu Deutschen in doppelt so vielen Meldungen genannt.

Über die Daten

Grundlage der Auswertung bilden alle rund 1,5 Millionen Polizeimeldungen der Jahre 2014 bis 2020, die über das Presseportal der dpa-Tochter "news aktuell" veröffentlicht wurden. Nicht alle Polizeidienststellen veröffentlichen ihre Pressemeldungen dort. Im Datensatz enthalten sind Meldungen von etwa 200 Dienststellen aus zehn Bundesländern: Hamburg, Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern (nur Mittelfranken). In anderen Bundesländern wird das System von "news aktuell" nicht flächendeckend genutzt. In rund 725.000 Meldungen wurde ein Delikt erkannt. In etwa fünf Prozent dieser Meldungen wurde die Nennung von Personen unter Angabe einer Nationalität festgestellt. Meldungen ohne Delikte, beispielsweise Brände oder Autounfälle, wurden nicht berücksichtigt.
In der Detail-Auswertung wurden die 20 Nicht-EU-Staaten berücksichtigt, die am häufigsten im Datensatz vertreten sind. Das sind: Syrien, Türkei, Algerien, Afghanistan, Marokko, Georgien, Albanien, Serbien, Gambia, Irak, Russland, Somalia, Iran, Kosovo, Tunesien, Eritrea, Pakistan, Ukraine, Guinea und Nigeria. Meldungen der Bundespolizei wurden nicht einbezogen, da hier aufgrund der Zuständigkeit deutlich häufiger Nationalitäten genannt werden und dies das Ergebnis verzerrt hätte. Auch Herkunftsbegriffe, die keine konkrete Nationalität bezeichnen (z.B. Südländer, Afrikaner) wurden außer Acht gelassen. Als Vergleich dienten die Zahlen der Tatverdächtigen laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des BKA der entsprechenden 20 Nationalitäten der Jahre 2014 bis 2019. Die PKS für das Jahr 2020 liegt noch nicht vor. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet von Prof. Dr. Thomas Hestermann von der Hochschule Macromedia

Innenminister sind uneins

Diese Zahlen stehen in einem Missverhältnis zu den ermittelten Tatverdächtigen.  Zwar begehen Ausländer bestimmte Straftaten statistisch häufiger. Das hat jedoch vielfältige Ursachen. Einen statistischen Zusammenhang zwischen der Nationalität eines Menschen und der Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden, gibt es nicht. Und die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts zeigt, dass über alle Delikte hinweg auf einen Tatverdächtigen aus den 20 untersuchten Ländern fünf Tatverdächtige aus Deutschland kommen.

Die Innenminister der Bundesländer sind sich in der Frage uneinig, ob ein grundsätzliches Nennen der Herkunft mehr Transparenz und Sachlichkeit in die Debatte um ausländische Straftäter bringen würde. Ein Treffen der Innenminister im Jahr 2019, bei dem über bundeseinheitliche Regeln beraten werden sollte, brachte kein Ergebnis. Die Regelungen der Bundesländer unterscheiden sich deshalb immer noch deutlich, wie eine Abfrage von NDR und BR bei den Innenministerien zeigt.

Grafik zur Analyse von Pressemitteilungen der Polizei © NDR Foto: Screenshot
Silvester 2015 gilt als Schlüsselmoment in der Debatte - in der Folge stieg die Nennung der Nationalitäten in Polizeimeldungen sprunghaft an.

Bei der bundesweiten Auswertung sticht unter anderem die Polizeidienststelle Lüneburg heraus. Hier werden ausländische Nationalitäten besonders häufig genannt: in 16 Prozent der Meldungen tauchen Menschen aus einem der 20 untersuchten Ländern auf. Zum Vergleich: In weniger als zwei Prozent der Lüneburger Meldungen ist von Deutschen die Rede. Dabei regelt eine Verordnung für die Polizei in Niedersachsen eigentlich, dass Nationalitäten nur im Ausnahmefall genannt werden dürfen, etwa bei besonders bedeutsamen Straftaten.

Lüneburg ändert Melde-Praxis

In Lüneburg - aber auch in einer großen Zahl von Meldungen aus anderen Stationen - sind es häufig Bagatelldelikte, die in der Auswertung auftauchen. Die Polizeipressestelle meldete etwa, ein betrunkener Afghane lasse sich an der Kneipe nicht abweisen oder ein aufgebrachter Syrer randaliere im Jobcenter. Ein Sprecher der Lüneburger Polizei erklärte, man habe nach Eingang der Anfrage von NDR und BR zu diesen Erkenntnissen die Prozesse überarbeitet: "Wir haben ihre Presseanfrage zum Anlass genommen, uns noch einmal sehr intensiv mit dem Innenministerium zu unterhalten, wie denn bestimmte Passagen (des Erlasses) zu interpretieren sind." Das Ministerium habe dargelegt, dass grundsätzlich keine Nationalitäten zu nennen sind, "so dass wir unsere Praxis geändert haben", sagte der Sprecher.

Mecklenburg-Vorpommern beschließt landesweite Vorgabe

Für den entgegengesetzten Weg hat sich die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern entschieden. "Um derartigen Verschiebungen in der medialen Darstellung entgegenzuwirken, wurde eine transparente klare Vorgabe für die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern geschaffen, wonach die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen als neutrale sachliche Feststellung in jeder polizeilichen Pressemitteilung stets mit angeführt wird", schreibt eine Sprecherin der Innenministeriums auf Anfrage. Ausnahmen mache man nur selten, etwa aus Gründen des Persönlichkeitsschutz.

In den Daten findet sich diese Vorgabe ab Februar 2020 wieder: Die Nennung ausländischer, vor allem aber deutsche Personen stieg sprunghaft an. "Durch diese neutrale Berichterstattung ist es nach hiesiger Einschätzung ausgeschlossen, dass die Zahl nicht-deutscher Tatverdächtiger in den Pressemeldungen der Polizei überzeichnet wird", heißt es aus dem Innenministerium.

Einheitliche Regelung erwünscht

In Hamburg ist die Zahl der Nennungen schon seit einigen Jahren vergleichsweise hoch, hier werden auch häufig Deutsche genannt, nämlich in etwa jeder Dritten ausgewerteten Meldung. In rund jeder sechsten Meldung wurde eine der 20 analysierten Nationalitäten genannt. Bremen meldet dagegen seit einigen Jahren kaum unter Angabe der Staatsangehörigkeit, hier fiel der Anteil der betrachteten ausländischen Nennungen von etwas über fünf Prozent in 2015 auf zuletzt rund ein Prozent in 2020. Deutsche wurden nahezu nie genannt.

Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter, spricht sich für einheitliche Regelungen bei der Nennung von Nationalitäten in Polizeimeldungen aus. "Es ist mehr als überfällig, dass die Innenministerkonferenz sich dieses Themas annimmt und eine gemeinsame Leitlinie erarbeitet", sagte Fiedler im Interview. Uneinheitliche Regelungen seien weder im Interesse der Polizei, noch im Interesse der Öffentlichkeit. "Ich würde es für sinnvoll erachten, dass wenn es einen Bezug zwischen der Nationalität oder der Herkunft der Täterin oder des Täters und der Tat gibt, dann auch eine Nennung erfolgt und in allen anderen Fällen eben nicht", sagte Fiedler. Außerdem solle die Polizei bei Nachfragen der Presse transparent mit der Nationalität von Verdächtigen umgehen.

Fachleute warnen vor Verstärkung rassistischer Ressentiments

Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie © NDR Foto: Screenshot
Eine überproportional häufige Nennung von Staatsangehörigkeiten im Zusammenhang mit Straftaten kann rassistische Ressentiments beflügeln, so der Kriminologe Tobias Singelnstein.

Experten gehen davon aus, dass eine überproportional häufige Nennung von Staatsangehörigkeiten im Zusammenhang mit Straftaten dazu beitragen kann, dass sich rassistische Ressentiments in der Gesellschaft verbreiten. "Wenn die Herkunft in der Polizeimeldung genannt ist, dann entsteht der Eindruck, dass die Staatsangehörigkeit eine entscheidende Rolle spielen würde für die Frage, ob jemand kriminell wird. Und das ist nun gerade nicht der Fall", sagt Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie in Bochum, im Interview mit NDR und BR.

Silvester 2015 als Schlüsselmoment in der Debatte

Ein Schlüsselereignis, das zeigt die Datenauswertung, war der Jahreswechsel 2015/2016. Damals kam es in Hamburg, Köln und an anderen Orten zu Übergriffen und sexueller Belästigung, viele der Beschuldigten stammten aus Nordafrika. Die Polizei hatte die Nationalität von Tatverdächtigen zunächst nicht genannt. Daraufhin wurde ihr vorgeworfen, etwas zu verheimlichen. Und eine deutschlandweite Debatte über die Nennung der Nationalität von Tatverdächtigen durch Polizei und Medien entbrannte.

Das gilt für Medien

Der Pressekodex legt Richtlinien für die journalistische Arbeit fest. Zur Nennung der Herkunft von Straftätern heißt es: "Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse." Für die Nennung könne zum Beispiel sprechen, wenn eine besonders schwere oder außergewöhnliche Straftat vorliege. Oder wenn eine Straftat aus einer größeren Gruppe heraus begangen werde, die durch gemeinsame Merkmale wie ethnische, religiöse, soziale oder nationale Herkunft verbunden sei (wie z.B. bei der Kölner Silvesternacht 2015/2016). Der Pressekodex wurde 2017 geändert, vorher hieß es, die Herkunft von Straftätern sei nur dann zu nennen, wenn ein "begründbarer Sachbezug" zur Straftat vorliege.

In der Folge stieg die Nennung der Nationalitäten in Polizeimeldungen sprunghaft an. "Gerade im Anschluss an die Kölner Silvesternacht ist eine Drucksituation entstanden, in der sowohl Politik, Polizei und auch teilweise Medien den Eindruck hatten, sie müssten Dinge sagen, damit sie nicht im Diskurs unter Druck geraten", so Kriminologe Singelnstein. Nach 2016 ging der Anteil der Herkunftsnennungen, das zeigen die Daten, wieder leicht zurück. Es blieb aber auf einem höheren Niveau als zuvor. Zwar werden auch Deutsche im Zeitverlauf öfter explizit mit Nationalität genannt, das Verhältnis zu den untersuchten 20 Ländern bleibt aber verzerrt.

 

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 09.02.2021 | 21:15 Uhr

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