Igor Strawinsky im Bauer-Grünwald Hotel in Venedig (1958).
Im Juni veranstaltet der NDR ein Konzert zu Strawinskys 75. Geburtstag (in Abwesenheit des Komponisten). In Venedig verhandelt Rolf Liebermann, Leiter der NDR Musikabteilung, mit Strawinsky über die Mitwirkung des NDR Sinfonieorchesters und NDR Chors bei zwei reinen Strawinsky-Programmen auf der Biennale di Venezia 1958. Als Hauptstück für dieses Projekt planen die beiden die Weltpremiere von "Threni" für Chor und Orchester, ein Auftrag des NDR.
Igor Strawinsky probt mit dem NDR Sinfonieorchester in der Laeiszhalle Hamburg (1958).
Im September dirigiert Strawinsky in Venedig zum ersten Mal das NDR Sinfonieorchester und den NDR Chor. Das erste Konzert unter seiner Leitung findet im Teatro la Fenice statt und kombiniert "Le Sacre du printemps" mit "Oedipus Rex". Strawinsky interpretiert hier erstmals seine neue, 1944 entstandene Version der "Danse sacrale" aus dem "Sacre". Das NDR Sinfonieorchester wird im Übrigen das einzige deutsche Ensemble bleiben, das den "Sacre" jemals unter der Leitung des Komponisten spielt.
Das zweite Konzert in der Scuola di San Rocco präsentiert die Uraufführung von "Threni", zusammen mit drei kleineren Werken. "Threni", für viele Jahre eines der größtbesetzten Werke in Strawinskys Schaffen, ist dem Norddeutschen Rundfunk gewidmet. Nach den Aufführungen in Venedig begleitet der Komponist das NDR Sinfonieorchester und seinen Chef, Hans Schmidt-Isserstedt, auf einer Tournee durch die Schweiz. Dabei stehen "Threni" (unter Strawinsky) und Beethovens Neunte (unter Schmidt-Isserstedt) auf dem Programm. Zurück in Hamburg, spielt das Orchester noch einmal das "Threni"-Programm von Venedig in der Laeiszhalle. Das Konzert mit dem berühmten Strawinsky am Pult ist das größte musikalische Ereignis in der Hansestadt seit der Uraufführung von Schönbergs "Moses und Aron" vier Jahre zuvor.
Igor Strawinsky bei der Probenarbeit in Hamburg.
Rolf Liebermann stellt klar, dass die Zusammenarbeit mit Strawinsky auch weiterhin Priorität haben soll. Es werden verschiedene Projekte diskutiert, und Strawinsky bleibt wegen seines freundschaftlichen Verhältnisses zu Liebermann in regem Kontakt mit Hamburg.
Angebote anderer deutscher Rundfunkorchester lehnt er mittlerweile ab. Zwar kommt aufgrund einiger Missverständnisse die von Liebermann geplante Hamburger Weltpremiere von "Movements" nicht zustande und findet stattdessen in New York statt. Aber der NDR kann sich immerhin die europäische Erstaufführung sichern, die Hans Schmidt-Isserstadt beim Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Köln dirigiert.
Rolf Liebermann (links) und Komponist Igor Strawinsky im Gespräch.
Rolf Liebermann hat den NDR verlassen, bleibt als neuer Intendant der Hamburgischen Staatsoper aber in der Hansestadt. Ihm gelingt es, Strawinsky zur Feier seines 80. Geburtstages einzuladen – wofür Strawinsky die schon vorliegenden Einladungen aus Washington und Moskau absagt. Die Veranstaltungen zu Ehren des Komponisten, bei denen dieser für ein Stück auch selbst ans Dirigentenpult tritt, umfassen mehrere Ballettabende unter Mitwirkung u. a. des New York City Ballet. Sie finden in Kooperation der Staatsoper mit dem NDR statt, der den zentralen Abend auch international als Eurovisionssendung überträgt.
Die 180-minütige Live-Sendung ist die bis dato größte Herausforderung für das NDR Fernsehen und wird mit ihren Live-Darbietungen, Interviews und vorproduziertem Material zu einem vollen Erfolg. Während seines Aufenthalts in Hamburg wird Strawinsky überdies mit einem Senatsempfang im Hamburger Rathaus gewürdigt.
Liebermann bringt die nächste große Strawinsky-Premiere nach Hamburg: Die szenische Uraufführung des Opern-Oratoriums "The Flood", die im April 1963 an der Hamburgischen Staatsoper stattfindet. Wie 1962 verhandelt man mit dem NDR auch wieder über eine Live-Übertragung im Rahmen der Eurovision, aber der technische Aufwand erweist sich als zu groß.
Igor Strawinsky probt "Apollon musagète" mit dem NDR Sinfonieorchester (1965).
Die Kooperation zwischen NDR, Liebermann und Strawinsky wird fortgesetzt. Dieses Mal liegt der Fokus auf der Entwicklung eines neuen Musikfilms für den NDR: Der 83-jährige Strawinsky wird dafür von Liebermann in Hollywood interviewt, dirigiert in einem NDR Studio in Hamburg eigene Werke und begleitet Aufnahmen seiner Musik im NDR. Das Ziel dieser Produktion unter der Regie von Liebermann und Richard Leacock ist es auch, einen neuen ästhetischen Ansatz für das Genre des traditionellen Dokumentarfilms zu finden - analog zur damals in der Filmszene modernen Strömung des "Cinéma vérité" mit ihren spontanen, ungeplanten Live-Situationen.
Alle großen Musikstrecken dieses Films stammen aus neuen Aufführungen des NDR Sinfonieorchesters, darunter eigens für den Film eingespielte europäische Erstaufführungen der "Huxley-Variationen" und des "Introitus T. S. Eliot in Memoriam", die Robert Craft in Strawinskys Anwesenheit dirigiert. Für den Mittelteil des dreiteiligen Films leitet der Komponist selbst im September 1965 zum letzten Mal in seinem Leben sein Ballett "Apollon musagète". Als Strawinsky das NDR Studio verlässt, um seinen Flieger von Fuhlsbüttel nach London zu nehmen, markiert dies das Ende seiner langen Zusammenarbeit mit den großen Veranstaltern und Orchestern in Deutschland. Strawinsky kann nicht mehr nach Deutschland zurückkehren und wird das Dirigieren bald ganz aufgeben müssen. Die Aufnahmen, die Liebermann und der NDR realisierten, zeigen also die letzten Stunden mit dem Komponisten in Deutschland.