Kolumne: "Die Gedanken sind frei"
Radiopastor Jan Dieckmann erzählt in der Radiokolumne der Kirche im NDR in dieser Woche, wie einst sein Vater Mut und Zivilcourage bewiesen hat. Für ihn ein prägendes Kindheitserlebnis und ein Vermächtnis.
In der vollbesetzten Kirche wird es erst mucksmäuschenstill. Dann erhebt sich ein Gemurmel, das zu einer Stimmlawine anwächst. Jemand schreit: "Das wird ein Nachspiel haben!" Dann bricht der Tumult aus.
Was ist passiert? Kein Mensch konnte ahnen, dass der Abschiedsgottesdienst für meinen Pastor, damals in meiner Konfirmandenzeit, derart eskaliert. Schuld daran war mein Vater. Ganz am Ende des Abschiedsgottesdienstes, nach freundlich weihevollen Abschiedsworten, Blumenstrauß und Shakehands unter Kollegen, also kurz bevor das Orgelnachspiel beginnen sollte, sehe ich überraschend meinen Vater mit festem Schritt durch den Mittelgang gehen.
"Gegen alle Tabus und Konventionen"
Er tritt ans Sprechpult im Altarraum, räuspert sich vernehmlich, bis eine gespannte Ruhe in der Kirche eintritt, und sagt dann mit fester Stimme, er würde gern als einfaches Mitglied des Kirchenvorstands - ganz ungeplant - auch noch ein paar Abschiedsworte für meinen Pastor sagen. Und dann legt er los: Dass dieser Abschied meines Pastors beileibe kein freiwilliger Abschied sei. Das vielmehr der Kollege meinem Pastor das Leben so schwer gemacht habe, dass er schließlich seine Versetzung beantragt habe. Und das, um es kurz zu sagen, eigentlich der Falsche geht. Rumms. Das saß.
Die dem Eklat folgende Verleumdungsklage - die mit einem Vergleich endete - hat mein Vater genauso stoisch durchgestanden, wie diverse Angriffe und Glückwünsche der Gemeindemitglieder. Er war überzeugt davon, dass Richtige getan zu haben. Gegen alle Tabus und Konventionen. Mich hat dieses Erlebnis mit meinem Vater, der in diesem Monat seinen 100. Geburtstag feiern würde, sehr beeindruckt und für mein Leben geprägt. Papa, das war großartig!
Freiheit im Denken machen einen Christenmenschen aus
Frei im Denken, keine Angst vor falschen Tabus, einen Sinn für Gerechtigkeit entwickeln - so stelle ich mir bis heute einen guten Christenmenschen vor. Wie ich das an meine Kinder weitergegeben habe? Ich habe das so gut ich konnte vorgelebt. Und ich habe da einen kleinen Trick. Ich habe meinen Kindern von klein auf vor dem Einschlafgebet immer zwei Lieder gesungen: Erstens den wunderbaren Choral "Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren". Und als zweites Einschlaflied gab es jeden Abend von mir das Lied "Die Gedanken sind frei". Denn ich denke, fromm zu sein und gleichzeitig frei im Denken ist kein schlechtes Rüstzeug für einen Christenmenschen.
Kreuz, Herz oder Anker? So heißt die Kolumne der Kirche im NDR. Regelmäßig vergeben die Radiopastoren und Redakteure ein Kreuz für Glauben, ein Herz für die Liebe oder einen Anker für das, was hoffen lässt.