Der Philosoph und Autor Michel Friedman © Gaby Gerster
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AUDIO: Gott und die Welt mit Michel Friedman (10 Min)

Michel Friedman: "Ich brauchte einen Moment des Trostes"

Stand: 13.03.2024 08:55 Uhr

"Judenhass" heißt das neue Buch von Michel Friedman. Darin ist der Jurist und Publizist primär Mensch. Ein Mensch, der sich große Sorgen macht, dass der Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 auf den Straßen wieder laut geworden ist.

Wie erklären Sie sich, dass die Mehrheitsgesellschaft geschwiegen hat?

Michel Friedman: Ach, wie erklären Sie sich das! Sie sind doch ein Bestandteil dieser Gesellschaft, auf die ich gewartet habe.

Möchten Sie von mir persönlich eine Antwort haben?

Friedman: Nein. Aber wissen Sie die Frage, wie erkläre ich mir das? Ich wollte umarmt werden. Ich brauchte Sie. Ich brauchte einen Moment des Trostes, und zwar nicht nur, weil ich jüdisch bin, sondern weil ich Mensch bin, weil ich Bürger dieses Landes bin, weil ich ein Teil von Ihnen bin. Wo waren Sie alle? Ich dachte, ich muss eine Vermisstenanzeige stellen. Über Wochen waren alle weg. Ich dachte, Sie sind vielleicht krank. Ich dachte, ich muss mich um Sie kümmern. Ich dachte vielleicht ist Ihnen was passiert?

Sie fragen mich persönlich. Und dann antworte ich auch tatsächlich persönlich. Ich fand es beschämend und erschreckend.

Friedman: Ja, und mir hat es Angst gemacht. Und es macht uns Juden einiges deutlich, denn wir sind ja Menschen. Wissen Sie, das ist das Thema: Es gibt christliche Menschen, jüdische Menschen, schwarze Menschen. Wir sind aber Menschen, schwule Menschen, alles Menschen, die unter Artikel eins im Grundgesetz fallen. Das haben wir alle unterschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und welche Menschengruppe auch immer angetastet wird, hat doch eigentlich, und das hat mit Solidarität nicht mal was zu tun, den Impuls, dass wir alle angegriffen werden. Aber der Impuls hat jedenfalls in diesen Wochen überhaupt nicht gezündet. Mit Ausnahmen, aber die Mehrheit - sie war nicht da.

In ihrem Buch "Judenhass" sprechen sie auch davon, dass jüdische Menschen jetzt vor der Entscheidung stehen, ihr Jüdischsein zu verstecken, um nicht bedroht zu werden. Dann wiederum würden sie aber einen großen Teil ihrer Identität verlieren. Wie gehen Sie selbst mit dem Dilemma um, Herr Friedman?

Friedman: Bereits vor mehreren Jahren hat der erste Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, nach ähnlichen aggressiven Vorgängen in Berlin einmal gesagt, er könne Juden, die sichtbar Juden sind, das ist die Kippa, der Davidstern nicht raten, an allen Plätzen zu jederzeit jüdisch sichtbar zu erscheinen, weil ihre Sicherheit nicht gewährleistet ist. Seitdem ist nichts besser geworden. Aber wenn das der Beauftragte der Bundesregierung sagt - das ist der Offenbarungseid des Rechtsstaates. Ich Michel Friedman, Jude, Moslem, Mann, Frau, ich gehe dorthin, wo ich gehen will, ohne dass ich unsichtbar werden muss. Das ist doch ein freies Land. Wenn diese Freiheit nicht mehr möglich ist, wenn nach dem 7. Oktober, wo so viel Gewalt gegen jüdische Menschen Alltag geworden ist, die Antwort ist: Juden sollen unsichtbar werden, um überhaupt ich habe noch leben zu können, also ins Ghetto zurückkehren, dann ist das das Ende jüdischen Lebens in einem freien Land. Dann müsste man theoretisch gehen. Wenn es nur um die jüdischen Menschen ginge, hätte ich dieses Buch niemals geschrieben.

Genau das. Da würde ich nämlich gerne einmal eingreifen. Das wäre nicht nur das Ende des jüdischen Lebens, sondern das wäre ein Ende der Freiheit von uns allen …

Friedman: Da bin ich bei Ihnen.

In Ihrem neuen Buch erteilen sie dem Hass eine Abfuhr. Wie schaffen Sie das, sich nicht von dem Hass anstecken zu lassen oder Gleiches mit Gleichem heimzuzahlen?

Der Philosoph und Autor Michel Friedman © Gaby Gerster
"Ich möchte nicht hassen, weil es auch eine Umkehr auf mich selbst hat", sagt der Publizist Michel Friedman.

Friedman: Also, wenn Sie mich persönlich fragen - meine Mutter hat mir irgendwann mal einen Satz gesagt, als ich in der Pubertät war: Denk daran, der Hassende lebt lebenslang mit dem Hass auf den Gehassten. Also, der der hasst, kriegt das ja nicht mehr los. Das ist das der große Unterschied zur Wut: Das Gefühl der Wut löscht sich irgendwann mal, aber der Hass ist hungrig und nie satt. Ich möchte nicht hassen, weil es auch eine Umkehr auf mich selbst hat. Wenn ich sage, ich hasse Menschen, und jetzt versuchen wir mal diesen Grundgedanken fortzuschreiben, dann hasse ich mich auch. Ich liebe und vertraue Menschen. Trotz allem. Das ist das gute Leben.

Herr Friedman: Das Gegenteil von Hass ist ja Liebe und auch etwas, was uns und unsere Religion miteinander verbindet. Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, was sie am Judentum lieben und wo sich ihnen das Judentum in seiner ganzen Schönheit zeigt …

Friedman: Naja, also ganz ehrlich, ich bin so glücklich, dass Messias noch nicht da ist. Wir sind die letzte, monotheistische Religion, wo Messias also die Realisierung Gottes auf Erden nicht vorhanden ist. Sie haben Jesus Christus. Es gibt Abraham. Das heißt, wir sind immer noch eine sehr anarchische Religion. Jeder kann sein eigener Rabbiner sein. Zehn Juden, hoffentlich auch Jüdinnen, so wie ich es sehe, können eine eigene Gemeinde gründen und damit ein Rabbiner bestellen. Wir sind die Religion des Buches. Damit bin ich schon außerordentlich stolz und glücklich, wie sind eine Religion, die die Alphabetisierung Apriori in sich selbst trägt. Und wir sind eine Religion des Streites. Da es eben den Messias nicht gibt, streiten sich, und zwar in der Interpretation des Alten Testamentes, immer wieder seit Jahrtausenden kluge Menschen. Ob sie zu klugen Ergebnissen kommen, lasse ich dahingestellt sein. Also, ich mag es einfach, dass diese Religion diskussionsoffen bleibt und niemand sagen kann, das ist jetzt das dogmatische Ende. Was sich an ihr auch mag, sie ist dem Menschen sehr zugewandt.

Ich würde gerne noch mal auf unsere Religion zu sprechen kommen, die stehen ja zueinander wie Mutter und Tochter. Also Jesus selbst ist jüdisch. Spielt Jesus für Sie irgendeine Rolle? Beziehungsweise gibt es irgendetwas, was Sie an ihm schätzen?

Friedman: Jesus wollte eine jüdische Sekte etablieren und wurde dann institutionalisiert.

Ich würde gerne einmal widersprechen. Er wollte vom Reich der Himmel sprechen, glaube ich.

Friedman: Dann können wir uns einigen oder auch nicht. Ich überlasse das den jüdischen Gelehrten, die da viel kompetenter als ich sind. Aber was ich damit nur sagen will - für mich ist Jesus nach wie vor Jude.

Ja, aber ich frage, was er ihnen bedeutet. Das ist ja egal, ob er jetzt christlich oder jüdisch ist …

Friedman: Aber auch hier sehen wir doch, was von der Bedeutung kommt. Die Geschichte, dass Jesus ans Kreuz genagelt wird und Gottessohn ist, kann keine jüdische Erzählung sein, weil die Voraussetzung, dass Messias kommt, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht erfüllt wurde.

Aber es könnte ja sein, dass bestimmte Handlungen, die er vollbracht hat oder bestimmte Haltung, die er gehabt hatten, an Bedeutung haben für Sie?

Friedman: Das ist doch unstreitig. Ein Mensch, der bereit ist, so die Sünden der Menschen nicht nur zu übernehmen, sondern jedem Menschen zu helfen, ist großartig. Aber wenn es solche Menschen nicht schon vor ihm gegeben hätte und nach ihm geben würde, würde die Menschheit schon längst in der Dunkelheit untergegangen sein. Was hier geschehen ist, ist das dieser Mensch durch die Umgebung und durch die Geschichtserzählung als ein Einzelbeispiel ganz besonders gesehen wurde und dann als eine Legende für eine neue Religion konstruiert wurde. Ich bin sicher, vor und nach Jesus und auch heute gibt es so viele wunderbare Menschen, die so wunderbar in ihrem Menschsein ihr Leben leben wie Jesu. Und ich glaube, das ist die Ethik des Menschen, wie wir eigentlich sein sollen. Aber die Realität ist eine andere, dass ich mich auch auf ein religiöses Eingehen des Lebens nicht verlassen würde. Was alles nicht heißt, dass, wenn Menschen religiös sein wollen, ich volles Verständnis dafür habe und dass ich immer noch glaube, dass auch eine religiöse Ethik eine Ethik ist. Aber ob sie das ist, was sie behauptet, da bin ich ein kritischer Denker und Philosoph.

Aber eine weitere Frage wäre ja auch, ob es spirituelle Erfahrungen gibt, die wir machen, also die dann eigentlich unabhängig sind von irgendwelchen dogmatischen Sätzen?

Friedman: Was war ihre letzte spirituelle Erfahrung? 

Was meine letzte spirituelle Erfahrung war?

Friedman: Damit die Zuhörer mal wissen, was man darunter versteht, wenn man den Begriff verwendet.

Eine spirituelle Erfahrung ist, wenn ich mich in mir mit Gott verbunden fühle.

Können Sie sich vorstellen, dass man leben kann, indem man Gott durch Mensch ersetzt? Dass, man sich mit "Mensch" verbunden fühlt?

Natürlich, das gehört mit dazu.

Friedman: Dann sind wir uns einig.

Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR

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NDR Info | Gott und die Welt - der Podcast | 16.03.2024 | 07:40 Uhr

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