Dorothee Röhrig: "Es wurde nicht von Gefühlen gesprochen"
Dorothee Röhrig kommt aus der berühmten Dohnanyi-Bonhoeffer-Familie. Vier Menschen wurden als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet. Was das mit Ihrer Familie gemacht hat, beschreibt sie im Buch: "Du wirst noch an mich denken. Liebeserklärung an eine schwierige Mutter".
Wie wurde in Ihrer Familie über die Widerstandskämpfer gesprochen?
Dorothee Röhrig: Wie in einem Geschichtsbuch. Also ganz faktisch, ganz klar. Zu welcher Zeit mein Großvater auch welche Möglichkeiten hatte, schon zu sehen, welche fürchterlichen Dinge Hitler geplant hat. Wir erfuhren auch, dass er verhaftet wurde, dass meine Großmutter verhaftet wurde, dass die Nazis ihn wirklich geschunden haben und verwahrlosen ließen. Aber wir erfuhren wenig oder gar nichts über das, was das mit den Überlebenden gemacht hat.
Welche Rolle hat der Schmerz über den Verlust gespielt?
Röhrig: Keine. Der Schmerz wurde nicht mitgeteilt, er wurde vor allen Dingen auch nicht gezeigt. Also das war etwas sehr Abgekapseltes. Es ist ein Familienschicksal, glaube ich, was sehr viele teilen. Nicht nur Familien, die jetzt im Widerstand waren, sondern auch solche, die sich vielleicht nicht so gegen Hitler gewehrt haben. Es wurde nicht gesprochen und von Gefühlen schon gar nicht. Und das war bei mir auch so. Das war diese Unnahbarkeit und auch die Unberührbarkeit meiner Mutter, die mich Zeit ihres Lebens doch sehr umgetrieben hat.
Sie haben in ihrem Buch beschrieben, dass die öffentliche Ehrung erst wesentlich später angefangen hat, das am Anfang immer noch von Volksverrätern die Rede gewesen ist. Haben Sie das noch miterlebt? Oder ist es vor allen Dingen Ihrer Mutter so gegangen?
Röhrig: Oh ja, das habe ich auch erlebt. Und ich glaube, dass ich jetzt so im Nachhinein, dass noch mal ganz anders spüren kann, was das für eine - ich sage mal - doppelte Niederlage gewesen sein muss. Denn die erste Niederlage war die, dass man Hitler nicht hat entfernen können. Dass dieses Unheil über Deutschland hereingebrochen ist, in einem unvorstellbaren Maß, wie wir wissen. Meine Großmutter hat innerhalb von zwei Wochen im April 1945 ihren Mann verloren, zwei Brüder verloren, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, und einen Schwager verloren. Rüdiger Schleicher. Die zweite Niederlage kommt sofort, nämlich in den 50er-, 60er-, 70er- Jahren, wo die Nazis ein gutes Spiel hatten und zum Teil wirklich auch unbehelligt und mit satten Beamtenpensionen wie zum Beispiel Herr Roeder und Herr Huppenkothen, die meinen Großvater hingerichtet, beziehungsweise verurteilt, haben. Die lebten bis Ende der 70er-Jahre, unbehelligt und mit satten Pensionen, während meine Familie sich mühsam über Wasser hielt und diese Verluste zu erleiden hatte.
Ich würde gerne noch mal zurückkommen auf ihre Mutter. Können Sie noch mal noch einmal sagen, was genau war das Schwierige mit ihr im Kontakt?
Die Unnahbarkeit, die Unberührbarkeit, die Mauer, die sie um sich zog. Ich sage mal auch diese Abschottung nach außen. Wir haben nie zusammen geweint. Also diese Umarmungen, die doch immer sehr distanziert waren. Und meine Mutter hat sich durch dieses Schweigen und Abgrenzen - glaube ich - auch eine Art Überlebenshilfe gesucht. Diese Mauer brauchte sie einfach und auch den Verstand. Es wurde immer der Verstand, die Leistung nach vorne gesetzt. Das war der Weg, um dieses Unerträgliche in irgendeiner Form zu überleben.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie sie manchmal versucht haben, Ihre Mutter aus der Reserve so zu locken. Sie haben einmal ihr vorgeworfen, dem Großvater wäre der Widerstand wichtiger gewesen als seine eigene Familie. Wie hat ihre Mutter darauf reagiert?
Röhrig: Sei still. Du hast keine Ahnung. Das war die allgemeine Sprachregelung. Oder ihr habt ja gar keine Ahnung, was wir durchgemacht haben. Und wie diese Verletzung, die ich in der Pubertät dann ausgelöst habe, wie die wirklich bei ihr hängen blieb und was sie sich da gedacht hat, das weiß ich nicht. Ich suchte einfach in der Pubertät auch einen Weg, um sie zu konfrontieren, um vielleicht auch ein Gefühl bei ihr herauszulösen, was sie dann mal mitteilt. Und ich hätte gerne über dieses Tabu in unserer Familie mit ihr gesprochen. Es hieß immer, es war der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen. Das sollen die letzten Worte meines Großvaters an seine Frau in der letzten Begegnung am 5. April 1945 gewesen sein, bevor er hingerichtet wurde. Und dieser zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen - unter dem konnte ich mir nicht so wirklich etwas vorstellen. Ich konnte mir etwas vorstellen unter der Tatsache, dass meine Mutter ihren Vater verloren hat und er wusste, dass sein Leben auf dem Spiel steht. Ich hätte gerne darüber gesprochen. Aber das war nicht möglich.
Ihre Familie ist sehr christlich geprägt. Also Dietrich Bonhoeffer ist ja wirklich einer der ganz berühmten Theologen. Welche Rolle hat glauben für Sie persönlich gespielt?
Röhrig: Ich weiß nicht, ob meine Familie so christlich geprägt ist. Es gibt diese herausragende Persönlichkeit von Dietrich Bonhoeffer, der sicherlich einen ganz eigenen Glauben und Spiritualität in sich trug, die viele Menschen dann auch berührt und getröstet hat. Aber ich würde jetzt aus meiner Erfahrung nicht sagen, dass meine Familie sehr christlich war. Ich habe mir aber vorgenommen, auch ein Ergebnis dieser Beschäftigung mit meiner Familie und dem Schreiben dieses Buches, dass ich die Schriften von Dietrich Bonhoeffer jetzt in den nächsten Jahren sehr genau lesen möchte.
'Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.' Das sind ja Worte, die wirklich also weltberühmt geworden sind und vielen Menschen Hoffnung und Trost spenden. Ist das anders, wenn man aus der Familie kommt?
Röhrig: Ach nein, das würde ich jetzt nicht sagen. Also ist das ist schon wunderbar. Es sind mal per se, jetzt ohne in Klammern Dietrich Bonhoeffer, es sind wunderbare Worte, und es ist schon sehr eindringlich, dass diese zwei Zeilen so viel Geborgenheit ausdrücken. Wunderbare Zeilen, aber ich habe mich bisher nicht sehr stark mit Dietrich Bonhoeffer beschäftigt. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob sich meine Mutter inhaltlich so sehr mit ihm beschäftigt hat.
Was reizt Sie jetzt, sich noch einmal mit Dietrich Bonhoeffer auseinanderzusetzen, also auch mit seiner Theologie?
Röhrig: Die schwierige Zeit, in der wir sind. Viele Menschen suchen Trost und Halt, machen sich Gedanken. Ich hatte neulich gerade eine Begegnung, wo wir uns auch gesagt haben, es ist erstaunlich, so schrecklich es ist, aber diese fürchterlichen Zeiten regen wirklich an, zu guten Gesprächen und viel nachzudenken. Das heißt jetzt nicht, dass ich nicht früher auch schon mal nachgedacht habe.
Ist das auch eine Neugierde auf seinen Glauben?
Auch ganz sicherlich. Also, das werde ich noch mehr erfahren, wenn ich ein bisschen mehr auch über ihn gelesen habe, über das, was ihn zu diesem spirituellen und gläubigen Menschen gemacht hat und wie er in den schlimmsten Situationen Trost verbreiten konnte. Ich habe gerade neulich mit einem katholischen Zuhörer nach meiner Lesung gesprochen, der sagt es gibt für ihn niemand wichtigeren als Dietrich Bonhoeffer. Und das fand ich auch sehr berührend, wie übergreifend das sein kann.
Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR