Die neue Pressefreiheit in Tunesien
Endlich können sie tun, was sie nie getan haben, nie tun durften - echte Geschichten erzählen. Journalisten in Tunesien genießen seit dem Umsturz endlich Pressefreiheit. Und das heißt, sie können zum Beispiel Bilder von Demonstranten senden, die gegen die Übergangsregierung protestieren und Steine werfen. Kritische Berichterstattung, doch wie funktioniert die eigentlich? ZAPP über Journalisten und ihre neue Freiheit.
Endlich wieder frei durch die Straßen laufen und Freunde treffen, für Faham Boukadous ist das wie ein Wunder. 15 Jahren versuchte er als Journalist in Tunesien zu arbeiten, lebte mit den Repressionen des Regimes. Mehrfach war er im Gefängnis. Zuletzt seit Juli 2010. Und dann das Unglaubliche: die Übergangsregierung kündigt an, alle politischen Häftlinge zu entlassen.
Faham Boukadous: "Es gab eine Konfrontation mit den Wachleuten, das war letzten Mittwoch. Die haben uns in die Zellen Tränengas geleitet, einen halben Tag hat das gedauert. Plötzlich haben uns dann die Wärter aus den Zellen geholt. Die hatten Angst vor einer Meuterei. Und als schließlich eine zweite Tür aufging, da habe ich verstanden: Jetzt bin ich frei." (deutsche Übersetzung)
Vor seiner Verhaftung hat Faham Boukadous als freier Journalist für verschiedene Internet-Plattformen geschrieben und für einen Satelliten-TV-Sender gearbeitet, auch über soziale Themen berichtet. 2008 drehte er Bilder über die Arbeiterproteste in der tunesischen Stadt Gafsa.
Faham Boukadous: "Danach hatte ich Tag und Nacht Angst. Angst, dass mich ein Polizeiwagen auf der Straße umfährt. Ich hatte Angst, von Milizen misshandelt zu werden. Ich hatte Angst, sie könnten meine Frau kidnappen. Ich hatte Angst, dass sie in mein Haus eindringen, dass sie mir alles nehmen" (deutsche Übersetzung).
Die Angst vor Bedrohung, Haft und Folter nach jedem kritischen Bericht, zum ersten Mal seit 15 Jahren hat Faham Boukadous sie jetzt nicht mehr.
Von Staatspresse zur freien Presse
Die Redaktion von "La Presse", der auflagenstärksten Zeitung Tunesiens. 23 Jahre lang war sie das Sprachrohr des Staatsapparates von Präsident Ben Ali. Geschichten über ihn und seine Frau gab es jeden Tag. Und jetzt plötzlich: Pressefreiheit. Faouzia Mezzi ist seit Jahren Kulturredakteurin bei "La Presse". Unter Präsident Ben Ali hatte sie zeitweise Schreibverbot. Mit dem Umsturz hat sich auch für sie alles geändert.
Faouzia Mezzi: "Das erste, was wir gemacht haben, war die Reporter auf die Straße zu schicken. Und sie wurden erst mal sehr schlecht empfangen vom Volk, von den Menschen auf der Straße. Die haben gesagt: Ihr Journalisten, ihr seid doch scheinheilig, ihr seid schizophren, ihr seid dies und das. Wir haben Schwierigkeiten gehabt. Aber nach und nach hat sich das dann eingerenkt." (deutsche Übersetzung)
Vor dem Umsturz bestimmte der tunesische Staat die Redaktionsleiter und die Themen. Regimekritische Beiträge wurden zensiert. Noch bevor Ben Ali das Land verlassen hatte, hat die Redaktion beschlossen, ihren alten Chefredakteur zu entmachten. Es wurde ein Kollektiv von zehn Journalisten bestimmt, das jetzt die Zeitung führt. Doch es gibt immer wieder, auch innerhalb der Redaktion, Unstimmigkeiten und Widersprüche.
Faouzia Mezzi: "Es ist wie ein ganz neues Lernen des Berufs, denn wir hatten vorher Journalisten, die sich verbogen haben, und eine Unterdrückung der professionellen journalistischen Arbeit. Und deswegen müssen sie das jetzt neu lernen, wie sie an die Ereignisse herangehen, wie sie sich informieren. Und sie müssen auch erst mal lernen, frei zu sein. Das ist keine leichte Sache." (deutsche Übersetzung)
Live-Berichterstattung statt Musik
Auch bei dem beliebten Privat-Radio "Mosaique FM" ist seit dem Sturz des Präsidenten nichts mehr so wie vorher. Bis vor zwei Wochen noch ein Musik- und Unterhaltungssender. Jetzt haben sie hier umgestellt auf Live-Berichterstattung rund um die Uhr. Jahrelang wurden die Redakteure von der Regierung unter Druck gesetzt. Chefredakteur Noureddine Boutar wollte zum Beispiel mal eine Sendung zum Thema "Gewalt gegen Frauen" machen.
Noureddine Boutar: "Und dann habe ich einen Telefonanruf bekommen von einem Verantwortlichen der Regierung, und der sagte mir: Passen Sie auf, Sie machen ein anderes Thema. Jetzt gerade gibt es einen Kongress für die Frauen unter dem Vorsitz von Frau Leila Ben Ali. Und deswegen muss man da jetzt nicht negativ drüber berichten, das ganze positiv darstellen, weil es um das Bild unseres Landes geht und so." (deutsche Übersetzung)
"Mosaique FM" sendet jetzt live von den Demonstrationen auf der Straße, liefert politische Analysen, diskutiert mit Gästen und bietet Anrufsendungen an. Gerade im Studio ist ein Konzernchef. Das Thema ist die wirtschaftliche Lage in Tunesien nach dem Umsturz.
Redaktionsgrenzen verschwimmen, im Moment gibt es für alle nur ein Thema: Wie geht es weiter nach der Revolution?
Umgang mit der neuen Freiheit
Imen Chihi, Journalistin bei "Mosaique FM": "Und seit diesem radikalen und brutalen Umbruch haben wir einerseits Angst und andererseits haben wir keine Angst. Das ist eine Revolution. Wir als Medien können jetzt offen sprechen, können Live-Reportagen machen, können alles genau so beschreiben, wie es ist. Das ist nicht mehr wie vorher, als wir Dinge unterschlagen mussten und unsere Worte kontrollieren mussten." (deutsche Übersetzung)
Wohin es tatsächlich geht für Tunesiens Medien, das wird sich erst in den nächsten Tagen und Monaten zeigen. Von Redaktionsalltag kann noch keine Rede sein. Die meisten Journalisten sind aufgewachsen in einer Welt voller Beschränkungen und Tabus. Und müssen jetzt erst lernen, mit der neuen Pressefreiheit umzugehen.
Imen Chihi: "Man muss wissen: Wo ist unsere Grenze? Wir müssen wissen, wie wir mit dieser Verantwortung umgehen. Vor allem die Medien. Weil wir ein Beispiel geben. Weil wir einen großen und wichtigen Einfluss auf das Volk haben. Damit muss man umgehen können. Und wir dürfen nicht unsere Prinzipien vergessen: Objektivität, Respekt und Freiheit. Das ist dann die wahre Demokratie." (deutsche Übersetzung)