Polizeimeldungen: Schuldlose Autofahrer?
"Ein 46-jähriger Mann aus Pinneberg", stand in einer Polizeimeldung der Polizeidirektion Bad Segeberg, "befuhr mit seinem BMW 640i den Kirchhofsweg in Richtung Mühlenstraße. Beim Abbiegen nach rechts übersah er ein sechs Jahre altes Mädchen." Jede Hilfe für die Kleine kam zu spät. Sie starb noch am Unfallort.
Für Roland Stimpel, der sich im Fachverband "Fuß e.V." für die Rechte von Fußgängern stark macht, ist das Verb "übersehen" eine übliche Verharmlosung "eines groben, im Ergebnis tödlichen Fehlers." Die Polizeimeldung geht mit den Worten weiter: "Das Kind geriet unter das Auto". War es zufällig unter das Auto geraten? Oder war es angefahren worden, stürzte dabei und der Autofahrer fuhr noch drüber, was gleich ganz anders klänge.
Schuldzuweisung an Opfer

Es könne leicht der Eindruck entstehen, sagt der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin, dass es in den Polizeimeldungen eine Schuldzuweisung an Fußgänger und Fußgängerinnen und RadfahrerInnen gäbe, dass bei "Autofahrern, die oft Unfallverursacher sind, die Verantwortung ein bisschen zurückgenommen wird". Formulierungen wie "konnte nicht mehr bremsen" sind vor der kriminaltechnischen Untersuchung eine willkürliche Annahme. Konnte der Autofahrer objektiv nicht mehr bremsen, oder war er abgelenkt, mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs? So lange die Polizei das nicht weiß, sollte sie solche Formulierungen eigentlich nicht verwenden.
ADFC kritisiert Polizeimeldungen
Es sind Formulierungen, die auch dem Radfahrverband ADFC sauer aufstoßen. "Auto und Fahrradfahrer stießen zusammen" klänge so, als sei der Fußgänger auf das Auto zu gerannt. In Wirklichkeit stößt nur einer, nicht beide. Eine Formulierung wie "Der LKW fuhr gegen einen Fußgänger", klänge, so Dirk Lau vom ADFC Hamburg, als sei der LKW automatisch gefahren. "Es ist aber nicht der LKW, der irgendwie automatisch fährt, sondern es ist tatsächlich der LKW-Fahrer, der einen anderen Menschen im Straßenverkehr getötet hat."

Roland Stimpel vom Fachverband "Fuß e.V." befürchtet, dass die Polizeimeldungen Einfluss auf das Verkehrsverhalten ihrer Leser hätten. "Unfallberichte können das Problembewusstsein abschwächen und Verkehrsteilnehmer in falscher Sicherheit wiegen." Das geschähe, wenn der Eindruck entstünde, der Unfall geschähe schicksalhaft, das Kind habe plötzlich die Fahrbahn betreten, der Autofahrer konnte nicht mehr ausweichen, eine der häufigsten Floskeln in Unfallberichten. Verkehrsunfälle geschehen in der Regel aber wegen überhöhter Geschwindigkeit oder der Missachtung von Vorfahrtsregeln, Zufall sind sie nie.
Polizeidirektionen antworten nicht
Wir haben versucht, uns mit mehreren Polizeidirektionen in Schleswig-Holstein, von denen wir die meisten Polizeimeldungen ausgewertet haben, zu einem Interview vor laufender Kamera zu verabreden. Wir bekamen nur Absagen. Auch das Landespolizeiamt in Kiel, die übergeordnete Behörde, wollte nicht mit uns vor laufender Kamera sprechen. Unsere Frage, ob man "die beanstandeten Polizeimeldungen sachlich-neutral formuliert fand?", wurde mit einem Wort beantwortet: "Ja."
