Stand: 29.05.2018 16:26 Uhr

Sterbehilfe: Verunsicherung nach Gerichtsurteil

von Katharina Schiele und Tina Soliman

Vor 20 Jahren erhielt Harald Mayer die Diagnose: Multiple Sklerose. Heute sitzt er im Rollstuhl, kann seinen Körper ab dem Hals abwärts nicht mehr bewegen, braucht für alles fremde Hilfe: "Wenn ich die Nase putzen muss, muss ich meine Assistenten rufen. Wenn ich mich nachts im Bett drehen will, habe Schmerzen oder so, dann muss ich die Assistenten rufen, die mich drehen." Sein Zustand ist für ihn unerträglich: "Es ist ein Sterben auf Raten. Ich sieche dahin. Langsam. Und ich kriege es mit." Der 47-jährige ehemalige Feuerwehrmann will sein Leben beenden, dafür möchte er ein Medikament: Natrium-Penotbarbital. Er verspricht sich davon schnelles Sterben, ohne Leiden. Aber für das Medikament braucht er eine Genehmigung.

VIDEO: Sterbehilfe: Verunsicherung nach Gerichtsurteil (7 Min)

Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe

Eine solche Genehmigung zu erlangen war bis vor kurzem unmöglich. Denn 2015 beschließt der Bundestag nach langer Debatte und über die Fraktionen hinweg das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe:

Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(*§217 StGB Geschäftsmäßige Sterbehilfe - also Hilfe zum Suizid, die auf Wiederholung angelegt ist, z.B. von Ärzten oder Sterbehilfeorganisationen.)

Doch im März 2017 fällt das Bundesverwaltungsgericht in letzter Instanz dann ein bemerkenswertes Urteil. Es stellt fest:

Eine Pflicht zum Weiterleben gegen den eigenen Willen (...) darf der Staat schwer und unheilbar kranken, aber zur Selbstbestimmung fähigen Menschen nicht (…) auferlegen.

 

Hans-Jürgen Brennecke © NDR Foto: Screenshot
Hans-Jürgen Brennecke, 73 Jahre alt, hat das Medikament Natrium-Pentobarbital beantragt. Doch ob er es bekommt, weiß er nicht.

Menschen in einer extremen Notlage darf das tödliche Medikament also nicht verweigert werden. Als Harald Mayer von diesem Urteil erfährt, stellt er einen Antrag auf den Erwerb des Medikaments bei der zuständigen Behörde, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM. Seitdem wartet er. Dem Institut liegen inzwischen mehr als 100 Anträge vor, doch über keinen hat das BfArM bislang entschieden. Von den Antragstellenden sind mittlerweile 20 verstorben. Auch Hans-Jürgen Brennecke hat das Medikament beantragt, auch er hat bislang weder eine Genehmigung, noch eine Absage erhalten. Der 73-jähirge Lüneburger ist an einer besonders aggressiven Art des Krebs erkrankt. Wie vielen Betroffenen, würde ihm die Gewissheit helfen, das Mittel zu bekommen, wenn er es braucht. Doch statt Gewissheit herrscht seit über einem Jahr völlige Rechtsunsicherheit.

Widerspricht das liberale Urteil dem Gesetz?

Michael Brand © NDR Foto: Screenshot
CDU-Politiker Michael Brand zweifelt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts an.

Verantwortliche Unionspolitiker wollen das Urteil nämlich nicht umsetzten. Sie argumentieren, das liberale Urteil verlange Sterbehilfe durch eine Behörde - in Form einer Genehmigung für ein tödliches Medikament. Das aber widerspräche dem Gesetz, das geschäftsmäßige Sterbehilfe verbietet. CDU-Politiker Michael Brand hat damals das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe mitformuliert. Er hält das liberale Urteil des Bundesverwaltungsgericht für falsch: "Ich glaube, dass die Anforderungen dieses Urteils nicht umsetzbar sind, weil der Gesetzgeber nicht verpflichtet werden kann sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen - auch nicht in Ausnahmefällen. Das wäre ein Bruch mit unserer Werteordnung. Es würde im Übrigen allen Anstrengungen des Staates für den Lebensschutz und für die Suizidprävention entgegenlaufen. Und deswegen glaube ich haben die Leipziger Richter bei einemsensiblen Thema unsensibel übers Ziel hinausgeschossen."

Karl Lauterbach © NDR Foto: Screenshot
Karl Lauterbach von der SPD verweist auf das rechtskräftige Urteil - fern ab persönlicher Einstellungen.

Karl Lauterbach vom Koalitionspartner SPD widerspricht. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sei einschlägig und somit das BfArM verpflichtet, die Medikamente zur Verfügung zu stellen. Es dürften nicht persönliche Werteeinstellungen über ein rechtskräftiges Urteil gestellt werden. Für die Sachbearbeiter des BfArM entsteht daraus eine schwierige Lage: Genehmigen sie den Erwerb des Medikaments, könnten sie gegen das Gesetz verstoßen. Geben sie es nicht heraus, ignorieren sie ein rechtskräftiges Urteil. Das BfArM ist dem Gesundheitsminister unterstellt.

"Der Staat drückt sich um die Regelung eines einfachen Problems"

Was wurde bislang vom CDU-geführten Gesundheitsministerium unternommen, um diese Rechtsunsicherheit zu beheben? Und welche Schritte sind geplant, um Klarheit zu schaffen für die Beamten, die über Anträge entscheiden müssen und vor allen für die todkranken Menschen, die auf eine solche Entscheidung warten? Über all das hätten wir gerne mit Gesundheitsminister Jens Spahn gesprochen. Doch zu einem Interview war er nicht bereit und auf unsere schriftlichen Fragen antwortete das Ministerium lediglich, man würde noch beraten.

Harald Mayer © NDR Foto: Screenshot
Harald Mayer leidet seit 20 Jahren unter Multipler Sklerose. Sein Leiden möchte er beenden.

Für Hans-Jürgen Brennecke steht fest: "Der Staat drückt sich um die Regelung eines einfachen Problems: Wie soll am Lebensende das genau geregelt werden? Was wir brauchen ist vor allem: Klare Regeln und klare Gesetze. An Beidem fehlt es total im Moment." Auch Harald Mayer setzt die Unklarheit zu. Er hat Angst, dass Spahn und seine Behörde das Problem einfach aussitzt. Denn für ihn geht es um jeden Tag: "Die Zeit läuft ab und bei mir wird es immer schlechter. Kann ich das dann noch selbst machen? Das ist vielleicht nicht mehr gegeben, wenn ich an der Atmungsmaschine bin oder wenn ich ernährt werden muss mit der Sonde oder solchen Sachen. Dann weiß ich nicht, wie man sowas realisieren kann."

Sterben können, bevor er sterben muss - das ist sein letzter Wunsch.

 

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 29.05.2018 | 21:35 Uhr