Friedland
Montag, 21. September 2015, 23:15 bis
00:40 Uhr
Nie waren seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit so viele Menschen auf der Flucht vor Kriegen und Konflikten wie heute. Für viele, die es bis nach Deutschland schaffen, ist die Ankunft im Lager Friedland der Beginn eines neuen Lebens oder eine Atempause auf der Flucht.
Der idyllische Ort in Niedersachsen hat viele Epochen von Fluchtgeschichten erlebt. Im September 1945 eröffnete die britische Militärverwaltung das Lager. Es war die erste Station für Millionen deutsche Vertriebene und Kriegsheimkehrer.
Dramatische Geschichten von damals und heute
Heute ist Friedland ein Erstaufnahmelager für Asylbewerber und Flüchtlinge. "Wir haben kein Zuhause mehr. In Daraya sind alle Häuser zerstört. In Syrien haben wir kein Obdach mehr. Nichts.", sagt Kinaaz Al Habbal, die mit ihrer Familie über den Libanon aus ihrer Heimat geflohen ist.
Ein Filmteam hat Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, Afghanistan und Pakistan während ihres Aufenthalts im Lager begleitet und auch mit Deutschen gesprochen, die in der Anfangszeit nach Friedland kamen. Alle haben dramatische Geschichten zu erzählen. "Wenn ich heute in Friedland Kindern begegne, aus Syrien oder anderswo, dann begegne ich immer mir selbst", sagt Annelie Keil, die 1947 als achtjähriges Flüchtlingskind krank und halb verhungert in Friedland ankam. Wie verschieden und wie ähnlich sind die Gefühle, Erfahrungen und Hoffnungen der Menschen an diesem Ort, an dem sich so viele Fluchtgeschichten kreuzen?
Director's Statement von Frauke Sandig
Nachfolgend das Director's Statement von Frauke Sandig, Autorin und Regisseurin des Dokumentarfilms "Friedland":
Als ich zum ersten Mal an dem kleinen Bahnhof in Friedland ankam, war ich überrascht, wie still und idyllisch der Ort war, mit üppigem Grün, Vogelgezwitscher, Fachwerkhäusern und den überaus ordentlichen Vorgärten mit Gartenzwergen. Nur die permanent hindurchrasenden Züge schienen die Ruhe zu durchbrechen und ein Gefühl von "Transit" zu vermitteln.
Als wir dann zwei Wochen lang im Lager Friedland filmten und all die Geschichten der Flüchtlinge hörten, voller Verzweiflung, Traurigkeit, Trauma und Gewalt, erschien uns diese Idylle surreal, wenn wir abends in unseren beschaulichen Landgasthof zurückwanderten, um uns an den gedeckten Tisch zu setzen.
Als das Lager 1945 eröffnet wurde, waren die Flüchtlinge, die abgemagert, krank und verstört in Friedland ankamen, Deutsche. Sie gehörten zum Volk der Täter, das verantwortlich war für einen furchtbaren Krieg. Die Einzelschicksale der Geflüchteten und Vertriebenen, die Verluste und die Vergewaltigungen von Frauen und Kindern waren jedoch auf der menschlichen Ebene nicht so verschieden von den Schicksalen derjenigen, die heute bei uns Zuflucht suchen. Die meisten sprachen damals nicht viel über ihre traumatischen Erlebnisse, vielleicht gibt es in Deutschland heute deshalb nur wenig kollektive Erinnerung daran, was es bedeutet, Flüchtling zu sein und alles zu verlieren. Wir haben vergessen, dass es einmal wir Deutsche waren, die eine helfende Hand oder einen mitfühlenden Zuhörer brauchten.
In Friedland werden die Ankommenden heute gut und freundlich behandelt, keine Frage. Das Lager wirkt beinahe wie ein Modell von dem, was eine "Willkommenskultur" in Deutschland sein könnte, eine freundliche Insel innerhalb der "Festung Europa". Aber die Flüchtlinge bleiben dort nur sehr kurz und gehen dann in eine ungewisse Zukunft. Und oft müssen sie ein anderes Gesicht von Deutschland erleben.
In einer Zeit, wo an vielen Orten in Deutschland Flüchtlingsheime brennen, liegt mir viel daran, den einzelnen Flüchtlingen ein Gesicht und eine Stimme zu geben, die Möglichkeit, selbst von ihren Schicksalen und der Situation in ihren Heimatländern zu erzählen und wirkliche Personen den anonymen Statistiken einer sogenannten "Flüchtlingsflut" gegenüberzustellen.
Vorstellung der Protagonisten
Familie Al Husary
Abdel Aziz Al Husary war Süßigkeitenbäcker in Damaskus und lebte mit seiner Familie ein zufriedenes Leben, bis der Krieg in Syrien begann und alles, was er sich aufgebaut hatte, zerstörte. Er konnte mit seiner Frau Wafaa und drei seiner Söhne in den Libanon fliehen und kam über das Flüchtlingshilfswerk UNHCR nach Deutschland.
Familie Adam
Auch Jebrail und Carolin Adam, christliche Assyrer, kamen mit ihren Kindern über ein humanitäres Aufnahmeprogramm nach Friedland. Über die Lage in ihrem Heimatort bekommen sie kaum noch Nachrichten und sorgen sich täglich um die Eltern, die noch in Syrien sind.
Familie Al Habbal Kinaaz
Al Habbal aus Daraya bei Damaskus ist mit ihrer Tochter Alaa und ihrem Sohn Ahmad nach Friedland gekommen. Alle Häuser in ihrem Wohnviertel wurden zerstört. Ihre größte Sorge und ihr größter Wunsch ist es, dass ihre anderen Kinder, die noch im Libanon und in Jordanien sind, nachkommen können.
Annelie Keil kam 1947 als achtjähriges Flüchtlingskind nach Friedland. Bei ihrer Flucht aus Polen war sie zuvor mit ihrer Mutter in russische Gefangenschaft geraten und musste Schlimmes erleiden. Sie kann sehr gut nachvollziehen, wie wichtig ein Ort wie Friedland, wenn auch nur für ein kurzes Atemholen in Sicherheit, für Menschen auf der Flucht ist - weil sie es selbst erlebt hat. Heute betreibt die emeritierte Professorin und Mitbegründerin der Universität Bremen zahlreiche soziale Projekte, u.a. eine internationale Suppenküche für Flüchtlinge und Asylbewerber.
Detmar Heller, heute Unternehmer in Hessen, kam 1947 als abgemagerter 18-Jähriger aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Friedland. Er erinnert sich an die Ankunft im überfüllten Lager: "Wie in einem Traum" sei er umhergelaufen. Plötzlich gab es Menschen, die sich um ihn kümmerten, ärztliche Versorgung und etwas zu Essen.
Edelgard Grothey, die als Kind mit ihrer Großmutter aus Ostpreußen geflohen und in Friedland wohnen geblieben war, wartete dort jahrelang vergeblich auf ihren Vater. Bei jeder Ankunft von Heimkehrertransporten aus Russland radelte sie mit einem Blumenstrauß zum Bahnhof und war sicher, dass er dieses Mal dabei sein würde.
Sohym Abdulkarem, der aus der Hölle des palästinensischen Flüchtlingslagers Yarmouk in Syrien mit Hilfe von Schleusern geflohen ist, landete nach der Fahrt im Schlauchboot über das Mittelmeer im Gefängnis in Malta. Wenn er sich an die schrecklichen Monate dort erinnert, kommen ihm die Tränen.
Auch Shazad Ahmad Ghuman aus Pakistan ist mit Schleusern nach Deutschland gekommen. Auf der Flucht über die Türkei und Griechenland musste er in dramatischen Situationen sterbende Freunde zurücklassen.
Die 19-jährige R. aus Eritrea hat auf ihrer Flucht über Libyen und das Mittelmeer Entsetzliches erlebt. Das schwangere Mädchen hofft in Friedland auf eine bessere Zukunft in Deutschland.
Soussan Q. wurde in Afghanistan als 15-Jährige mit einem viel älteren Mann zwangsverheiratet und hat ihn verlassen. Die Strafe dafür in ihrer Heimat ist Steinigung. Sie ist froh, dass sie mit ihren beiden kleinen Töchtern in Friedland Zuflucht gefunden hat.
- Redaktion
- Dirk Neuhoff
- Redaktionsleiter/in
- Dirk Neuhoff
- Autor/in
- Frauke Sandig
- Regie
- Frauke Sandig
- Produktionsleiter/in
- Eva-Maria Wittke
