Der Mediziner Wolfgang Knüll © privat

Wolfgang Knüll: "Diese Liebe wird oft mit Gott identifiziert"

Stand: 19.07.2023 20:12 Uhr

Der Mediziner Wolfgang Knüll beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen der Nahtoderfahrung. Gespräche mit Grenzgängern zwischen Leben und Tod haben ihn zurück zum Glauben - und in die Kirche geführt.

Gibt es das Phänomen Nahtoderfahrung?

Wolfgang Knüll: Es gibt ganz viele Zeugen, die das bestätigen können. Und deswegen kann man sagen, die Nahtoderfahrung ist ein Faktum. Das ist also keine Illusion.

Wir können erst einmal wissenschaftlich festhalten, es gibt Menschen, die nach lebensbedrohlichen Situationen von bestimmten Dingen erzählen. Ich bin keine Medizinerin, das kann ich deshalb nicht beurteilen - was wird da erlebt?

Knüll: Das Wichtigste ist für mich die außerkörperliche Erfahrung. Man geht davon aus, dass in der Bevölkerung bis zu vier Prozent so etwas Ähnliches erlebt haben. Es sind in Deutschland also ein paar Millionen, das sind also nicht wenige. Und die bezeugen das, was ein Mensch während seiner außerkörperlichen Erfahrungen sieht. Der sieht sich selbst im OP-Saal liegen. Er erzählt ihnen, wer wo gestanden hat, wer was gesagt hat. All diese Dinge sind durch Zeugen belegbar. Das heißt, eine Nahtoderfahrung ist eine reale Erfahrung, die allerdings nicht in unserem Bewusstseinszustand stattfindet, sondern einem erweiterten Bewusstseinszustand, den die Medizin nicht erklären kann.

Aber schon eine subjektive Erfahrung einer einzelnen Person oder verschiedener Personen.

Knüll: Eine Nahtoderfahrung ist grundsätzlich subjektiv, weil wir nicht dahin können, wo die Nahtoderfahrung stattfindet. Durch die vielen Zeugen haben wir zwar keinen Beweis, aber wir haben einen Nachweis.

Das Thema ist in der Forschung nicht neu. Was hat Sie persönlich dazu gebracht, sich dieser Thematik noch mal so intensiv zuzuwenden?

Knüll: Dass ich vor 46 Jahren einen alten Patienten reanimiert habe. Da gab es den Begriff Nahtoderfahrung noch gar nicht. Und der hat mir dann aus der Zeit seiner tiefen Bewusstlosigkeit ein Nahtodererlebnis erzählt. Ich habe das damals nicht gewusst, dass es eins ist. Ich habe das auch nicht geglaubt, denn nach Universitätswissen durfte er nichts erinnern und erzählen. Das hat mich zutiefst irritiert. Und deswegen habe ich mich seither mit diesem Thema beschäftigt.

Mit welcher Einstellung zum Thema Tod und Sterben haben Sie davor gelebt, als Mediziner?

Knüll: Ich will mal so sagen, ich bin evangelisch erzogen und war im landläufigen Sinne gläubig. Ich war kein richtiger Kirchgänger, aber ich habe das schon für möglich gehalten. Also, Gott war für mich eine Realität und ich bin dann mit Tod und Sterben erst im Studium richtig konfrontiert worden. Und dann habe ich viel gelesen: Camus, Sartre, Beckett, Existenzialisten und diesen ganzen Kram. Und dann kam mein Studium der Medizin - und danach war ich so etwas wie ein wissenschaftlicher Atheist. Ja, das kann ich nicht anders formulieren. Das hat mich nicht glücklich gemacht. Da war eine ungeheure Leere. Das hat mir nicht gefallen, und insofern hat mich die Nahtoderfahrung eigentlich belehrt. Und vielleicht bin ich deswegen auch so fasziniert gewesen davon, dass mein Patient bei der Wiederbelebung bei der Herzstillstand-Bewusstlosigkeit etwas erinnerte. Der durfte nichts erinnern. Und da habe ich mir gedacht, vielleicht ist da doch was. Und diese Frage hat mich dann nicht mehr losgelassen.

Und davor ist es so gewesen, dass das Studium der Medizin Sie zu einem Atheisten gemacht hat…

Knüll: Camus, Sartre, Beckett und dann die Wissenschaft. Da war klar, wenn der Mensch stirbt, tot ist, danach ist nichts mehr. Das Lebendige ist raus - und es ist vorbei. Da hat mich die Nahtoderfahrung eines Besseren belehrt. Und ich bin auch wieder in meine evangelische Kirche eingetreten.

Das finde ich so interessant. Die Wissenschaft, also die medizinische Wissenschaft, hat Ihnen dann ja wieder geholfen, auch gläubig zu werden.

Knüll: Das ist es für mich auch. Ich halte es für keinen Zufall, dass uns in einer Zeit, wo wir praktisch eine überbordende Wissenschaft haben, mit ungeheuren Möglichkeiten der Entwicklung, aber auch der Zerstörung, dass uns gerade in dieser Zeit das Fenster aufgemacht wird - in diese andere Welt. Wir können dort nicht hin, aber wir können einen Blick dorthin werfen. Und das Faszinierende ist für mich, dass die Botschaft der Nahtoderfahrenen - darüber haben wir noch nicht gesprochen - die erleben ja ein ungeheures Licht, eine ungeheure Wärme, eine Liebe, die so riesengroß ist, dass sie nicht wagen, sie überhaupt beschreiben zu wollen. Man bräuchte eine andere Sprache, und sie werden überschüttet mit dieser Liebe, und sie nehmen diese Liebe, sie wird oft mit Gott identifiziert. Ich denke, dass ist nicht falsch, dass man sie mit Gott identifiziert. Und sie nehmen diese Liebe mit zurück auf die Erde, wenn sie wieder zurückkommen. Sie werden oft zurückgeschickt. Es wird gesagt, du hast noch eine Aufgabe auf Erden. Du kannst noch nicht hierbleiben, du willst in der Liebe hierbleiben, aber das geht nicht. Du musst zurück. Und dann kommen sie zurück auf die Erde, und sie bringen diese Liebe mit. Und diese Liebe, das ist die gleiche Liebe, von der vor 2.000 Jahren Jesus Christus gesprochen hat. Es ist die Botschaft der Nächstenliebe, und so verhalten sich diese Menschen auch.

Sie sprechen davon, dass es in allen Religionen solche Erfahrungen gibt.

Knüll: Es gibt in allen Religionen diese Erfahrungen.

Ist diese Erfahrung nicht etwas Überreligiöses, weil Sie das jetzt speziell auf das Christentum beziehen?

Knüll: Es ist etwas Überreligiöses. Aber die Botschaft dieser Liebe, der Nächstenliebe, die nehmen alle mit in ihre Religion. Und durch das Tun der Nächstenliebe, sich selbst zu verändern, als Mensch selbst zum Menschen zu werden, nicht durch Meditation beispielsweise. Dadurch kann man sich auch näherkommen. Aber indem ich einfach als Mensch handle, da tue ich eigentlich schon genug.

Ich finde es spannend zu hören von Ihnen, wie sich Ihr Leben durch diese Erkenntnisse verändert hat. Also was für eine Konsequenz ziehen wir jetzt da heraus?

Knüll: Ja, meine Konsequenz ist ganz klar: alles, was man tut, sollte vor der Liebe Bestand haben, sonst muss man es unterlassen. Und so versuche ich auch zu handeln. Gefordert ist dabei nicht Unfehlbarkeit. Ich bin kein Heiliger geworden, aber das Entscheidende ist das Bemühen. Und dann nimmt man Abschied vom Diktat des Geldes. Geld hat dann nicht mehr die Bedeutung, die es in dieser Welt überall und pausenlos hat. Gewalt, Neid, Hass, Vorteilsdenken, Egoismus - all das können wir ablegen. Und das Gewaltige daran ist für mich, indem wir das tun, erfüllen wir ganz nebenbei das Gebot der Nächstenliebe. Wenn wir so handeln, dann würde sich die Welt gewaltig verändern. Und wir würden vielleicht hier auf Erden eine Vorstellung von dieser unglaublichen Liebe bekommen, von der die Nahtoderfahrenen sprechen, welcher jeder Friede innewohnt, der höher ist als die Vernunft. Wenn wir die Botschaft der Nahtoderfahrenen aufnehmen und aus Liebe heraus handeln, dann würden wir auch viel eher der Vergebung fähig und mit der Vergebung auch der Reue. Und Vergebung und Reue, die nimmt ja immer eine Lust auf von uns und unserer Unzulänglichkeit. Und die Nächstenliebe befreit uns zu einem mitmenschlicheren und erfüllteren Leben. Und das wird die Welt fundamental ändern. Das heißt, wir könnten so eine Art Paradies auf Erden durch Nächstenliebe gestalten. Das finde ich faszinierend. Und die Auferstehung Jesu, das ist für mich eine Tatsache, wie die unsrige eine sein wird, das sagt mir die Nahtoderfahrung. Wir gehen nur dahin, woher wir kommen. Das habe ich in meinem Buch auch geschrieben, und es nützt nichts, das zu leugnen. Es wird geschehen. Man muss vor nichts Angst haben. Und die vornehmste Aufgabe eines Arztes war für mich immer Angst zu nehmen. Und vielleicht habe ich deshalb auch das Buch geschrieben.

Haben Sie keine Angst mehr vor dem Sterben und dem Tod?

Knüll: Überhaupt nicht. Ich bin ein Gläubiger. Ich bin kein Wissender. Hätte ich eine Nahtoderfahrung gehabt, dann würde ich mich wahrscheinlich als Wissenden bezeichnen. Die Nahtoderfahrenen sind wissend.

Sind Sie nicht neidisch auf die, wenn Sie so viel mit denen geredet haben?

Knüll: Neid ist mir vollkommen fremd.

Also hätten Sie diese Erfahrung nicht gerne auch gehabt?

Knüll: Ich hätte sie gerne gehabt, aber ich bin nicht neidisch. Ich freue mich für die, die sie haben durften. Das gehört zu den Gnaden, die wir im Leben haben können. Aber Neid? Nein, gar nicht. Wenn sie mit Menschen gesprochen haben, die eine Nahtoderfahrung hatten, dann weiß ich nicht, ob man da noch fähig zu Hass und Neid sein kann. Die, die sie hatten, sind es nicht definitiv nicht. Die sind alle frei und sehr dankbar, dass ich ihnen dann zuhöre. Und ich bin noch viel dankbarer, dass sie mir ihre Geschichten erzählen.

Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Gott und die Welt - der Podcast | 22.07.2023 | 07:45 Uhr

Info

Die Evangelische und Katholische "Kirche im NDR" ist verantwortlich für dieses Onlineangebot und für die kirchlichen Beiträge auf allen Wellen des NDR.