Mareike Hansen, Pastorin für Trauerseelsorge © privat
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AUDIO: Gott und die Welt mit Mareike Hansen (11 Min)

Mareike Hansen: "Verwaiste Eltern werden oft allein gelassen"

Stand: 09.04.2024 12:00 Uhr

Wenn das eigene Kind stirbt, bleiben verwaiste Eltern oft allein mit ihrem Schmerz. Mareike Hansen ist Pastorin und Trauerbegleiterin im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg und bietet Trauergruppen für verwaiste Eltern an.

Wie würden Sie Trauer beschreiben?

Mareike Hansen: Ich würde sagen, Trauer ist die Kehrseite der Liebe. Eigentlich ist es das Gleiche. Es ist die andere Seite der Medaille. So wie wir nicht ohne Liebe leben können, können wir auch nicht ohne Trauer leben. Denn wenn wir einen Menschen lieben, der dann von uns geht, dann trauern wir - und Trauer ist was ganz Normales. Trauer ist keine Krankheit.

Wann wird Trauern gefährlich oder bedenklich?

Hansen: Das ist genauso wie in der Liebe ist. Wenn in der Liebe keine Bewegung mehr stattfindet, etwas starr wird und sich manifestiert, dann erstickt die Liebe. Und bei der Trauer ist das ähnlich. Wenn die Trauer nicht in Bewegung bleibt und sich nicht wandeln darf, dann wird Trauern gefährlich. Wenn sie einfriert und dich in eine Starre verfallen lässt, das du nicht mehr das Gefühl hast, dass du irgendwie aus diesem Loch herauskommst.

Was ist die Herausforderung? Das ist ja ein unangenehmer Prozess …

Hansen: Jede Trauer ist individuell und jede Trauer ist so einzigartig wie die Liebe und der Mensch, der dahintersteckt. Ich glaube, dass viele noch so ein Bild von der Trauer haben, die so in Phasen verläuft. Und das ist mittlerweile sehr überholt. Wir wissen, dass Trauer in unterschiedlichen Nuancen und auch spiralförmig laufen kann. Man macht drei Schritte vor und vier wieder zurück. Es ist wichtig, sich kein Diktat aufzuerlegen, das Trauer und so und so zu verlaufen hat. Und die besondere Herausforderung ist, Geduld mit sich zu haben, dass jeder Schritt, den ich in der Trauer gehe, ein wertvoller ist und dass ich nicht stehen, sondern weiter in Bewegung bleibe.

Sie haben eine, in Anführungszeichen, normale Trauergruppe und auch eine Trauergruppe für verwaiste Eltern - nach Suizid. Was macht die Situation für diese Eltern so kompliziert?

Hansen: Ich glaube zusätzlich zu diesem unendlichen Schmerz kommt bei der Trauer durch Suizid erschwerend hinzu, dass die Unausweichlichkeit des Todes fehlt. Also wenn ein Kind durch eine Krankheit oder durch einen Verkehrsunfall gestorben ist, dann ist das unendlich schwer. Aber es war sozusagen unausweichlich. Wenn aber das verstorbene Kind entschieden hat, sich das Leben zu nehmen, fehlt die Unausweichlichkeit. Und damit ist auch eine Aggression und auch eine Schuldzuweisung im Raum, die immer wieder in der Frage mündet: Warum hast du uns das angetan? Es ist immer eine Wut spürbar, dass diese Eltern mit diesem Schicksal weiterleben müssen und andersrum eben auch nach der eigenen Schuld suchen: Was habe ich nicht gesehen? Was habe ich falsch gemacht? Wo hätte ich anders handeln können? Das sind unendlich schlimme Gedankenschleifen, die in den Köpfen herumwirren.

Und dazu kommt dann ja auch noch eine gesellschaftliche Stigmatisierung. Denn das ist das Klischee: Wenn es Kinder nicht gut geht, dann sind die Eltern schuld. Was war in der Kindheit verkehrt. So, oder?

Hansen: Ja, zusätzlich zu dieser Schuldfrage kommt die Scham. Diese Stigmatisierung sitzt uns seit Jahrhunderten in den Knochen. So wurden vor paar Jahrzehnten noch Suizidale nicht auf unseren kirchlichen Friedhöfen begraben.

Und es ist unheimlich schwer, den Nachbarn oder Freunden zu erzählen, dass mein Kind sich das Leben genommen hat. Und da ist ein Austausch mit Menschen, die es auch erlebt hat, doppelt wertvoll, weil oft überhaupt nicht im engsten Familienkreis oder Freundeskreis darüber gesprochen werden kann.

Wie wird jetzt den Menschen in diesen Trauergruppen geholfen?

Hilfe und Trost sind große Worte. Eine Mutter hat mal zu mir gesagt: danke, Mareike, dass du uns nicht tröstest. Ich glaube, viele Menschen, die verwaisten Eltern begegnen, sind so hilflos. Und in ihrer Hilflosigkeit werden so viele Floskeln gesagt, die viel mehr wehtun, als wenn man einfach sagt: Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll, und ich nehme dich jetzt deswegen einfach nur in Arm.

Diese Trauergruppen sind deshalb so kostbar, weil die Eltern dort Gleichgesinnte kennenlernen, die von Grund auf solidarisch sind, weil sie ganz genau wissen, was sie durchgemacht haben. Und das ergibt ein unheimlich großes Verbundenheitsgefühl und Vertrauen. Hier darf ich alles, was mir durch den Kopf geht, sagen. Und das Schöne ist auch zu sehen: Manchen, denen die Sprache fehlt und die es einfach nicht ausdrücken können, die können sich in dem, was andere erzählen, ganz oft wiederfinden. Also es hat auch etwas mit Sprache finden, zu tun, dass man merkt: Das, was ich jetzt fühle, das habe ich selber nicht ausdrücken können. Aber die Mutter, die mir gegenübersitzt, die hat es gerade in die Worte gepackt, die ich schon lange fühle. Und das glaube ich, kann ein großer Trost sein.

Dass man nicht durchdreht, also. Eigentlich geht es erst einmal ums Überleben. So stelle ich mir das vor …

Ja, es geht wirklich ums Überleben - Schritt für Schritt und Tag für Tag.

Warum hat sich die Kirche dieses Themas angenommen?

Ich glaube, dass es eigentlich ein Ur-Auftrag der Kirche ist, für Menschen in Not da zu sein. Und das ist für mich die höchste seelische Not. Und Kirche hat auch etwas zu geben. Ja, wir haben Hoffnungsbilder, und da ist für mich Trauerbegleitung mit einer der wichtigsten Bausteine, die wir als Kirche haben, Menschen nicht allein zu lassen. Und dieses Alleingelassen sein erfahren verwaiste Eltern ganz oft.

Es gibt Psychologen, die eine Therapie ablehnen, weil ihnen das Schicksal zu hart erscheint, weil sie das nicht ertragen könnten. Andere bieten einen Therapieplatz in drei Jahren an. Ich finde es gut, dass Kirche Menschen, die sonst kaum Hilfe erfahren, und die so am Boden sind und es kaum noch schaffen, um sich um irgendetwas zu kümmern, geschweige denn 1.000 Telefonnummern zu wählen, ein Angebot macht.

Inwieweit kann Glaube in so einer furchtbaren Situation helfen? Die Gefahr ist, dass sich dann Trauernde nicht ernst genommen fühlen, wenn man mit irgendwelchen frommen Sprüchen kommt …

Wenn ich mit verwaisten Eltern spreche, dann merke ich oft eine ganz große Wut auf diesen Gott. Und ganz viele möchten überhaupt nichts mehr mit Gott zu tun haben. Und trotzdem es ist gerade in diesen Trauergruppen auch Thema, worauf unsere Hoffnung und unsere Sehnsucht eigentlich hinausläuft.

Was gibt Ihnen die Kraft dafür das auszuhalten, also jede Woche sich mit den Trauernden auseinanderzusetzen - immer wieder.

Das ist schon mein Glaube, dass ich eine ganz tief verwurzelte Hoffnung in mir trage. Ich weiß, dass die Kinder gut aufgehoben sind, da, wo sie jetzt sind. Und wenn ich diesen Glauben nicht hätte, dann könnte ich diese Arbeit auch nicht machen.

Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR

Suizidgedanken? Es gibt Auswege

Sie sind depressiv und finden keinen Ausweg? Vielleicht denken Sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen? Dann melden Sie sich dort, wo Ihnen geholfen wird! Sie können sich - auch anonym - per Telefon, Mail, Chat oder in einem persönlichen Gespräch mitteilen. Ihre Gespräche werden vertraulich behandelt.

Diese Angebote stehen natürlich auch allen offen, die Bekannte oder Freunde haben, die suizidgefährdet sein könnten.

Bundesweite Beratungsangebote:

  • Telefonseelsorge: anonyme und kostenfreie Chat- und Mailberatung und Telefonberatung unter 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222
  • Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer": anonyme und kostenlose Online-Beratung und Telefonberatung unter 116 111 (montags bis samstags 14 bis 20 Uhr)
  • Elterntelefon "Nummer gegen Kummer": anonyme und kostenlose Telefonberatung unter 0800 - 111 0 550
  • Elternstress-Telefon des Kinderschutzbundes Mecklenburg-Vorpommern: anonyme und kostenlose Telefonberatung unter 0385 - 479 1570
  • Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS): 030 - 31 01 89 60
  • Muslimisches Seelsorgetelefon: 030 / 44 35 09 821 (24h)

Weitere Unterstützungsangebote im Netz:

  • U25-Chatberatung der Caritas: anonyme und kostenlose Chatberatung für Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre.
  • Jugendnotmail: anonyme und kostenlose Chatberatung für Jugendliche bis 19 Jahre.
  • Hoffnungswiese: anonyme und kostenlose Online-Beratung.
  • Sorgenmail: themenoffene Online-Beratung.

Informationsangebote zum Thema Depression:

Ihr habt weitere Fragen zum Thema Depression? Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet neben einem Selbsttest, der jedoch keine medizinische Diagnose ersetzt, auch ein Info-Telefon unter 0800 - 33 44 533 an.

Hilfsangebote bei Gewalt gegen Frauen und sexueller Belästigung:

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Gott und die Welt - der Podcast | 16.03.2024 | 07:40 Uhr

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Die Evangelische und Katholische "Kirche im NDR" ist verantwortlich für dieses Onlineangebot und für die kirchlichen Beiträge auf allen Wellen des NDR.

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