Stand: 04.07.2007 23:00 Uhr

Große Penetranz - Die Medien und ihre Experten

Wenn Journalisten nicht mehr weiter wissen, dann beginnen sie gerne sich gegenseitig zu interviewen. Oder besser noch: einen Experten zu Rat zu ziehen. "Mauert" beispielsweise ein Unternehmen, sichert der "O-Ton" eines Kollegen fernsehgerechte Berichterstattung. Ist ein Sachverhalt kompliziert, gibt ein Experte der Darstellung den Anstrich von Glaubwürdigkeit und Kompetenz. Warum aber bloß kommt man im Fernsehen inzwischen nicht mehr ohne "Sat.1-Society-Expertinnen", "ZDF-Schiedsrichter-Experten" oder gar Nussknacker-Experten aus? Und warum gibt es Experten, die scheinbar zu Allem und Jedem befragt werden? Zapp über echte und falsche, unentbehrliche und unsinnige Experten.

Anmoderation:

"Es gibt einen bemerkenswerten Trend im Fernsehen - die Experteritis. Wenn Journalisten nicht mehr weiter wissen oder keinen passenden Gesprächspartner finden, dann befragen sie sich gegenseitig und schon werden - schwuppdiwupp - aus Kollegen sogenannte Experten. Dass die nicht immer halten, was ihre tollen Titel versprechen, erklärt sich von selbst. Hochbegehrt sind sie trotzdem. Maik Gizinski über Journalisten, die Rat suchen und solche, die Rat geben."

Beitragstext:

Wenn Unfassbares die Welt erschüttert, wenn Unerklärliches seinen Lauf nimmt, selbst wenn es gar nichts zu erklären gibt - dann schlägt im Fernsehen die Stunde der Experten. Martin Fiedler: "Experten machen einen Teil der Arbeit, die eigentlich Journalisten machen sollten." Prof. Jürgen Falter: "Experten sind billig, die kosten wirklich nicht viel Geld." Andreas Spaeth: "Ich habe oft das Gefühl, dass diese Art der - wie ich es nenne - Experteritis die Recherche ersetzt." Als im Jahr 2000 die Concorde abstürzte, hatten viele Journalisten viele Fragen. Und einer hatte Antworten. Ein Spezialist für Luftfahrtfragen, ein Kenner der Concorde. Ausschnitt aus NDR aktuell: "Bei mir im Studio ist Andreas Spaeth, er ist Luftfahrtjournalist. Was ist das Schwierige beim Starten einer Concorde?" Bislang hatte er geschrieben - für "FAZ", "Süddeutsche" und andere. An diesem Tag aber begann er zu reden. Andreas Spaeth, Luftfahrt-Experte: "Der Höhepunkt war an dem Abend dann, dass ich bei Gabi Bauer in den "Tagesthemen" saß. Und da war mir auch klar: Also, jetzt, wenn ich das jetzt hier gut mache oder anständig mache, dann habe ich sicher auch eine gute Chance, das in Zukunft zu machen. Hätt ich jetzt hier sozusagen versagt und stammelnd vor der Kamera unzusammenhängende Dinge erzählt, wär’s auch sicher mein letzter Auftritt gewesen." Ausschnitt "Tagesthemen": "Andreas Spaeth, schönen guten Abend." "Guten Abend." Der Journalist, den bis dahin kaum einer kannte, erlebte über Nacht einen Durchbruch. Er wurde zum Experten, zum meistgefragtesten dieser Tage. ARD am Abend - ZDF am Morgen. Andreas Spaeth: "Danach stand hier in meinem Büro das Telefon nicht still. Es kann sich keiner vorstellen, der das nicht erlebt hat, wie es ist, wenn plötzlich ganz Deutschland, alle Redaktionen beschließen: Heute wollen wir Herrn Spaeth interviewen. Egal ob Radiosender, Regionalzeitungen, bundesweite Fernsehsender, egal wer, alle haben sich überlegt: Wir wollen den Mann, der gestern in den "Tagesthemen" war."



Kompetenz ist OK, Bekanntheit ist wichtiger

Er startete seine Experten-Karriere beim "heute journal" - vor 15 Jahren. Inzwischen ist er Rekordhalter. 23 Mal saß er bei Sabine Christiansen - genauso oft wie Angela Merkel und Hans Eichel. Prof. Jürgen Falter, Politikwissenschaftler: "Man muss knapp, knackig und einigermaßen wirklich prägnant formulieren können, und das auch so machen können, dass es nicht von zu vielen Fremdworten wimmelt." Martin Fiedler, PR-Berater: "Kompetenz ist Grundvoraussetzung, noch fast wichtiger für viele Medien ist, dass der Experte bekannt ist. Das hilft dann den Redakteuren die Wahl zu begründen: Warum haben wir jetzt diesen Experten gewählt. Kompetenz ist OK, Bekanntheit ist wichtiger." Auch er ist er Experte - für Medien. Jo Groebel antwortet auf vieles. Prof. Jo Groebel, Medien-Experte: "Wenn man eine gewisse Regelmäßigkeit hat, wird man auch schon deshalb gerne wieder genommen. Und da kann’s in der Tat passieren, dass man einen viel besseren Experten hätte eigentlich, den man aber nicht anspricht, weil man auf den viel besser zugänglichen oder auch schon ein paar Mal benutzten Experten gerne zurückgreift." Gerne greift man auch auf den Luftfahrt-Experten zurück, wenn es gar nicht um Luftfahrt geht. Als "Air Berlin" in die Schlagzeilen geriet wegen Insidergeschäften, war Spaeth gefragt, obwohl er kein Fachmann für Finanzen ist. Andreas Spaeth: "Die haben irgendwie einmal abgespeichert: Aha, Luftfahrt gleich Spaeth, was ja im Prinzip auch gut ist, für mich ja auch nicht von Nachteil ist im Grunde, aber das führt dazu, dass die eben auch wirklich nicht weiter groß nachdenken, sondern sagen: Aha, "Air Berlin" ist Luftfahrt ist Spaeth."



"Journalistenwissen tief wie eine Pfütze"

Prof. Paul Nolte, Historiker: "Die Experten werden ja auch zu einer Marke. Man möchte dann Professor Müller hören, weil er Professor Müller ist, gar nicht mehr unbedingt, weil er bestimmte umgrenzte Forschungsthemen hat oder zu bestimmten Themen veröffentlicht hat. Man will einfach die Stimme von Professor Müller zu jedweder Frage hören." Die Sender gehen sogar noch weiter. Sie kennzeichnen ihre eigenen Fachjournalisten gerne als ARD-Doping-Experten, als ZDF-Schiedsrichter-Experten oder als Society-Expertin von Sat.1. Und wer den richtigen Experten immer noch nicht gefunden hat, der findet ihn hier. Im Internet beim Informationsdienst Wissenschaft, ein Angebot einiger Universitäten. Was der Experten können, wissen oder sagen sollte, lässt sich hier mit wenigen Klicks quasi bestellen. Einfach Formular ausfüllen, die Auswahl übernimmt der Makler, Antwort bitte - in drei Tagen. Die Recherche übernehmen andere. Prof. Jürgen Falter: "Ich habe es schon erlebt bei mir im Wohnzimmer, das eine Crew da war mit einer Journalistin, die normalerweise ja eher Filmsternchen interviewt hat, die von Politik keine Ahnung hatte, die nicht wusste, worüber sie redet und dann aus Berlin zugefaxt bekommen hatte, was sie denn fragen solle, und mit mir dann die Fragen durchgegangen ist, ob denn das alles so richtig sei, ob mir noch was einfiele." Andreas Spaeth: "Ich frage die dann: Ja, was wollen Sie mich denn fragen? Das macht mir fast schon ein bisschen Spaß, die auch so ein bisschen herauszufordern. Und dann kommen teilweise wirklich Antworten wie: Ach, Fragen, ja, äh, am besten sagen Sie dasselbe wie heute morgen im Radio!" Martin Fiedler: "Die Redaktionen müssen aus wirtschaftlichen Gründen mit immer weniger Redakteuren auskommen, und die Redakteure haben einen immer größere Vielfalt von Themen zu bearbeiten. Was zu dem landläufig schönen Satz führt, das Wissen der Journalisten wäre eben weit wie das Meer und tief wie eine Pfütze."



Freiwillig in Gefangenschaft

Aber auch das Wissen der Experten hat seine Grenzen. Ein Spinnenphobie-Experte mag ein Fachmann sein - Spezialisierung allein ist kein Garant für Substanz. Sie macht allenfalls populär. Jo Groebel: "Wenn ich gefragt werde, sage ich gerne was und nehme dabei auch in Kauf, dass man mir sagt: Na ja, schon wieder der Groebel und so weiter. Also, das ist die Reaktion, die hör ich natürlich auch durchaus häufiger. Damit lebe ich gerne." Martin Fiedler: "Es gibt natürlich Experten, bei denen ist es schwer zu glauben, dass die neben ihren vielen Auftritten in den Medien auch noch dazu kommen, das Hintergrundwissen weiter zu pflegen, dass sie zum Experten gemacht hat." Und nicht nur ihr Wissen hat sie zum Experten gemacht, zum Terrorismus- oder Antiterrorismus-Experten, sondern auch ihr Bestreben ins Fernsehen zu kommen. Prof. Jürgen Falter: "Die Regeln des Spiels sind die Regeln des Mediums, und das Medium hat eben nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung. Und dann sind Sie ein Gefangener des Systems. Und wenn man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt, muss man eben mitspielen."

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 04.07.2007 | 23:00 Uhr

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