Sendedatum: 19.05.2010 23:05 Uhr

Verheimlicht, veröffentlicht - Politiker und ihre Krankheiten

von Jasmin Klofta, Christoph Lütgert

Man kennt das: Auf dem Schreibtisch türmt sich die Arbeit und genau dann kriegt man eine fiese Erkältung. Also, hilft ja nichts, mit Triefnase ins Büro. Auf die Idee, zwei Tage nach einer Brustkrebsoperation oder kurz nach einem Schlaganfall wieder zu arbeiten, kommen aber wohl die wenigsten. Spitzenpolitiker schon. Denn Krankheit wird bei ihnen gern als Schwäche ausgelegt. Sowohl von den lieben Parteikollegen, als oft auch von den Medien. Zapp über Politiker und ihren Umgang mit Krankheiten.

 

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An den Rollstuhl gefesselt: Wolfgang Schäuble (CDU) - Deutschlands, vielleicht sogar Europas, derzeit wichtigster Minister und in letzter Zeit auch noch krank. Jetzt in Brüssel ist er endlich wieder an Deck, ist dabei beim Treffen der EU-Finanzminister, auf dem die Euro-Krise beendet oder zumindest eingedämmt werden sollte. Wolfgang Schäuble: "Ich glaube, wir haben in diesen zwei Tagen gute Arbeit geleistet, aber es bleibt viel zu tun. Es ist eine wichtige Woche, um nicht nur den Euro zu verteidigen. Und ich hatte ja auch das Vergnügen, wenigstens ein bisschen so eine halbe Nachtsitzung auch noch mitzumachen. Es würde einem ja sonst in der Biografie etwas fehlen."

 

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Es ist ein Signal an die Medien: Seht her, ich bin gesund, ich kann auch wieder anstrengende Nachtsitzungen überstehen. Hans Peter Schütz vom "Stern" meint: "Schäubles Gesundheitszustand und seine Form im Rollstuhl ist natürlich ein Politikum. Es wird dann doch, zwar nur wispernd und hinter der Kulisse, gemurmelt, wäre es nicht jetzt eigentlich Zeit, dass sich beispielsweise Angela Merkel von diesem Mann trennen muss?"

 

"Risiko Schäuble" (Financial Times Deutschland vom 11.05.2010) . Schlagzeilen der letzten Wochen: "An der Grenze“ (Süddeutsche Zeitung vom 12.05.2010), "Die Schwäche des Ministers", "ist er dem Job gewachsen?" (Die Welt vom 11.05.2010). Besonders brutal die Fotos und Überschriften der Bild-Zeitung: "Sorge um Schäuble" (12.05.2010), "Wie lange kann sich Deutschland einen kranken Finanzminister leisten?" (11.05.2010).

Vertuschte Krankheiten

In Sieger-Posen sehen sie sich am liebsten und es gibt Berliner Journalisten, die meinen, Politiker könnten sich in ihrer Scheinwelt und dem gnadenlosen Konkurrenzkampf eigentlich keine Krankheit leisten. Hans Peter Schütz erklärt: "Bei Politikern wird dies sofort auch umgedeutet in: Jetzt kann er nicht mehr, jetzt schafft er die Politik nicht mehr. Und damit ist praktisch jeder gezwungen, seinen eigentlichen Gesundheitszustand zu verschleiern." Das Gegenteil vertritt Holger Schmale, Chefkorrespondent der "Berliner Zeitung": "Politiker werden glaube ich, heute genauso als Menschen wie andere Menschen auch wahrgenommen von den Menschen, von ihren Wählern. Und da kann man auch mal krank sein, klar."

Peter Struck (SPD) kehrte ständig den Kraftkerl raus und traute sich nicht, Krankheit zu zeigen, er war gleichsam der Rocker der rot-grünen Koalition. Einen Schlaganfall 2004 verheimlichte der Verteidigungsminister sogar vor seinem Kanzler Schröder und spielte ihn zu einer kleinen Unpässlichkeit herunter. Irgendwann aber kam es raus, durch reißerische Schlagzeilen. Bild angeblich in großer Sorge: "Das Herz! So krank ist Peter Struck wirklich" (Bild am Sonntag vom 20.06.2004); "Große Sorge um Struck (Bild vom 11.06.2004); "Mutet Struck sich zu viel zu?" (Bild vom 10.07.2004).

Bei einer spektakulären Bundeswehrübung inszenierte und zelebrierte Peter Struck, kaum dass er wieder auf den Beinen war, vor Soldaten und viel Presse seine Wieder-Auferstehung: 'Seht her, ich bin ganz der Alte!'. Damals sagte er: "Die Ärzte haben mir jetzt gesagt, ich bin wieder gesund. Also arbeite ich wieder mit Full Power, wenngleich ohne Pfeife, das will ich mir dann schon, sozusagen, verbieten. Aber sonst mit voller Kraft."

 

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Holger Schmale: "Sie haben jetzt Peter Struck genannt, aber es gibt ja noch länger zurück Helmut Kohl, der einen ganzen Parteitag mit schwersten Unterleibsschmerzen durchgestanden hat, weil es niemand wissen sollte, dass er krank war." Beim wahrhaft legendären Bremer CDU-Parteitag von 1989 wollte eine Gruppe um Lothar Späth und Heiner Geißler gegen den Parteivorsitzenden und Kanzler putschen. Im Wissen darum verheimlichte Kohl eine schlimme Prostata-Erkrankung, traute sich nicht einmal auf die Toilette. In der Öffentlichkeit bloß keine Schwäche zeigen. Seine unsäglichen Qualen sind nur ganz schwach im Gesicht abzulesen. Der Putsch wurde abgeblasen. Kohl triumphierte.

Auf die Frage, "vor wem hat der Politiker oder muss er die meiste Angst haben? Vor den Medien, vor dem politischen Gegner oder vor den Parteifreunden?", antwortet Hans Peter Schütz: "Also wenn Sie mich in der Reihenfolge fragen, dann würde ich sagen, vor den Parteifreunden. Weil es halt innerhalb seiner Partei ständig Konkurrenz gibt. Die Leute drängen nach oben."

Aus Angst vor Parteifreunden

Besuch bei Heide Simonis (SPD). Sie hat als schwerstkranke Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein das Versteckspiel auf eine unvorstellbare Spitze getrieben - auch sie aus Angst vor den Parteifreunden.

Rückblende: Die Ministerpräsidentin am 4. März 2002, genau zwei Tage nach einer schweren Brustkrebs-Operation, eingehüllt in eine sehr weite Stola, damit man nicht sehen konnte, was wirklich mit ihr los war, nimmt an einer posthume Ehrung für einen ihrer Vorgänger, Gerhard Stoltenberg, teil.

 

VIDEO: Interview (22 Min)

Heide Simonis: "Ich war am Samstag operiert worden, das hatte der operierende Arzt so gemacht, dass ich mich ein bisschen frei bewegen konnte in diesem Krankenhaus und nicht so viele Leute mich sehen würden. Und Montag nach der Operation bin ich dann raus aus dem Bett. Ich hatte ja noch die Schläuche und die Büdelchen, wo das dann alles reinläuft, und hatte dann also ein Tuch drüber, ein riesengroßes modisch tipp-topp Tuch angezogen, sodass man also eigentlich das Gefühl hatte, die ist ein bisschen blass und erkältet."
Auf die Nachfrage, "Wovor hatten Sie konkret Angst? Für den Fall, dass Ihre Krankheit und die Operation bekannt werden würde?", meint die ehemalige Ministerpräsidentin Schleswig-Holsteins: "Ich hatte Angst, dass sie mich anfangen würden zu beobachten, ob ich schlapp mache. Ob ich meinen Pflichten noch nachkommen kann."
Frage Reporter: "Parteifreunde, Medien – wer?"
Heide Simonis: "Medien weniger glaube ich. Das sind Parteifreunde, die immer nach einem Vorwand suchen, um anzufangen zu ratschen. Und man kann über die Krankheiten von jemandem wunderbar ratschen. Ein Herzinfarkt gibt Stoff für mindestens drei Wochen oder sowas. Das ist immer noch so."

Erst vier Jahre später, 2006, da war sie nicht mehr Ministerpräsidentin, ist Heide Simonis bei Beckmann an die Öffentlichkeit gegangen.

Offenheit statt Vertuschung

Der Spitzenpolitiker, der es genau andersherum machte - totale Offenheit, Bekenntnis seiner körperlichen Schwäche und gesundheitlichen Probleme und damit bewusster Karriere-Knick - ist SPD-Kurzzeit-Chef Matthias Platzeck am 10. April 2006: "Ich habe am 11. Februar am Nachmittag einen Kreislauf- und Nervenzusammenbruch gehabt. Ich habe sieben, acht Tage gebraucht, bis wieder alles richtig tickte."

Wegen seiner gesundheitlichen Probleme gab Matthias Platzeck den SPD-Vorsitz nach nicht mal 150 Tagen ab. Aber er blieb brandenburgischer Ministerpräsident, unangefochten, ohne jegliche Einbuße an Autorität und Popularität bis heute.

 

VIDEO: Interview (7 Min)

Auch dem grünen Spitzenmann Jürgen Trittin, der erst vor kurzem einen Herzinfarkt erlitten hatte, hat der offene Umgang mit seiner Krankheit in den Medien bisher nicht geschadet. Michael Schroeren, Fraktions-Pressesprecher die Grünen. erzählt: "Um Spekulationen vorzubeugen, über Ursachen, Dauer der Erkrankung, haben wir gesagt, was es war, nämlich ein Infarkt und dass es einige Zeit lang bedürfte, um wieder gesund zu werden." Die lebensbedrohliche Krankheit des ansonsten so sehr auf Fitness bedachten Spitzenpolitikers Trittin wird geradezu generalstabsmäßig der Öffentlichkeit vermittelt.

Michael Schroeren: "Das haben wir von vornherein gleich am Tag der Einlieferung ins Krankenhaus kommuniziert und dann erst mal eine Weile gar nichts mehr. Als er aus der Klinik, der Heilbehandlung entlassen wurde, haben wir die nächste Meldung in die Welt gesetzt und zum Abschluss, kurz bevor er wieder auf der Bühne stand, mit ihm ein großes Interview in einer Sonntagszeitung gemacht."

Wahrhaftig ein großes und optisch aufwendig präsentiertes Interview in der größten deutschen Sonntagszeitung - "Jürgen Trittin exklusiv: Mein Leben nach dem Herzinfarkt" (Bild am Sonntag vom 21.03.2010) -, die ansonsten nicht zu den publizistischen Verbündeten der Grünen zählt.

Fast schon eine Tragik. Die ganze Diskussion um Politiker und ihre Krankheiten hat Wolfgang Schäuble ausgelöst. Der Mann, der zwar im Rollstuhl sitzt, der aber unbedingt das Bild des kerngesunden Machers vermitteln will. Hans Peter Schütz: "Er hat mir sogar einmal gestanden, er ist einmal umgefallen mit dem Rollstuhl und dann hat er sich so geärgert, dass er sich nicht selbst alleine wieder aufrichten konnte, dass er darüber vor Wut geweint hat. Also insofern, muss man bei ihm sagen, er beschreibt das dann auch selbst gerne so: Dem Rollstuhl kann ich nicht entrinnen, aber ich bin fit, ich bin gesund."

Deshalb, und dies haben Deutschlands Medien bis heute respektiert, gibt es keine Bilder, wie ein hilfloser Wolfgang Schäuble aus seinem Dienstauto gehoben wird. Und eigentlich möchte er auch nicht gefilmt werden, wenn ihn ein Helfer bergauf schiebt.

 

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 19.05.2010 | 23:05 Uhr

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