Sendedatum: 17.03.2010 23:05 Uhr

Der Missbrauch und die plötzliche Medienwucht

von Mareike Fuchs, Nils Casjens

"Die Scheinheiligen", so hat der Spiegel getitelt. Alle Medien machen den Missbrauch zum Thema und das täglich. Seit Wochen beherrscht er die Schlagzeilen, Nachrichten und Talkshows. Immer wieder gibt es neue Enthüllungen über sexuelle Nötigung und vertuschte Verbrechen. Es ist eine wahre Medienlawine. Dabei gibt es nicht nur die Gerüchte, sondern auch die Anklagen der Opfer schon viel, viel länger. Seit Jahren um genau zu sein. Zapp über die Macht des Schweigekartells und das Kreuz mit der Aufklärung.

 

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Die Mauern waren lange undurchdringlich: Was in einigen Internaten und katholischen Schulen geschah, sollte niemand erfahren. Doch nach und nach kommt die Wahrheit ans Licht:
Margarita Kaufmann, Leiterin Odenwaldschule, meint am 11. März: "Die Odenwaldschule hat große Schuld auf sich geladen und nichts wird diese Schuld je von ihr nehmen können. Und nichts wird dieses große Leid ungeschehen machen."
Johannes Bauer, Pater des "Kloster Ettals", erklärt am 5. März: "Ich habe die Kinder damals nicht nur ins Gesicht geschlagen, sondern auch beispielsweise mit einem Bügel den Hintern versohlt. Aber, ja, es ist es tut mir leid."
Klaus Mertes, Leiter des "Canisius-Kolleg", sagt am 28. Januar: "Das ist auf Schweigen gestoßen, es ist versunken, das ist eine pädagogische Katastrophe und die müssen, das können wir wieder gutmachen, indem wir vielleicht, soweit es geht, nach 30 Jahren später doch noch einmal die Antwort geben: 'Ja, ihr habt gesprochen, nein wir haben nicht zugehört, wir haben nicht hingehört. Heute wollen wir hinhören'."

Immer mehr wollen hinhören, was sich hinter diesen Mauern zugetragen hat. Immer mehr wollen berichten, was sie dort erlitten haben. Erschütterndes, das vielen vor kurzem noch undenkbar schien. Peter Wensierski, Redakteur des "Spiegels", erklärt: "Immer dann, wenn auch Opfer in den Medien von solchen Fällen gelesen haben, haben andere Opfer den Mut gefasst, sich auch zu melden. Und das erleben wir jetzt gerade." Frank Nordhausen, Redakteur "Berliner Zeitung", sagt: "Die große Brisanz hat das Thema jetzt erst erhalten, als man gemerkt hat, es durchzieht die gesamte Gesellschaft. Das durchzieht auch eben, es betrifft auch die Oberschichten. Und da werden natürlich die Leute hellhörig. Und da werden vor allen Dingen auch, sag ich mal selbstkritisch, die Medien hellhörig."

Keine Aufmerksamkeit für frühere Berichte

Dabei hätten sie schon früher hellhörig werden können - durch Norbert Denef zum Beispiel. Sechs Jahre lang hat ein Priester ihn brutal misshandelt. Beim ersten Mal war er ein kleiner Junge. Er erzählt seine Geschichte seit fast 20 Jahren. Norbert Denef: "Ich hab damals schon ganz klar, in dem Artikel, den man nachlesen kann, 1993, meinen Fall öffentlich gemacht. Da ist gar nichts passiert. Ich hab Riesenängste gehabt, nichts, gar nichts. Da hab ich die ersten Erfahrungen gemacht, das heißt, wenn ich das öffentlich mache, es spricht einen niemand an."

Auch Franz Wittenbrink hat erzählt, davon, wie er als Internatsschüler bei den Regensburger Domspatzen jahrelang brutal verprügelt wurde. Wie katholische Brüder seine Schulkameraden sexuell missbrauchten. Doch kaum jemand hat zugehört. Franz Wittenbrink erzählt: "Von diesen Prügelorgien, von diesen sexuellen Demütigungen bei den Regensburger Domspatzen, ich habe vor zweieinhalb Jahren sogar sehr ausführlich im Bayerischen Rundfunk ein Interview gemacht, wo ich mindestens zehn Minuten darüber berichtet habe. Kein Echo, nichts."

 

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Interview

Jörg Schindler, Reporter der Frankfurter Rundschau 12 Min

Kein Echo hatten über viele Jahre auch Berichte über die Odenwaldschule. Der offenbar pädophile Schulleiter, fünf Schüler, die missbraucht worden waren - das hatte die Frankfurter Rundschau schon vor über zehn Jahren enthüllt. Im Hessischen Rundfunk sagt ein Reporter 1999: "Wir haben natürlich versucht, mit dem heutigen Leiter der renommierten Modellschule über das Thema zu sprechen, aber der wollte sich vor laufender Kamera nicht äußern." (HR, "Hessenschau", 17.11.1999).
Jörg Schindler, Redakteur "Frankfurter Rundschau", erzählt: "Wir hatten erwartet, dass wir eben einen Stein ins Wasser werfen, der Kreise zieht, weil die Odenwaldschule, das ist ja eine Unesco-Modellschule, deswegen dachten wir, dass das sicherlich aufgenommen werden wird. Und das eben andere Leute auch dem ganzen nochmal nachgehen, dass auch die Schule selbst versucht, irgendwie herauszufinden, was genau da eigentlich in ihren heiligen Hallen passiert ist. Aber tatsächlich ist de facto nach der Erstveröffentlichung so gut wie gar nichts passiert."

Ein langer Weg zum Aufklärungs-Tsunami

In den heiligen Hallen wird weiter geschwiegen. Die Mauern sind dick, nur wenig dringt nach draußen, nicht nur an der Odenwaldschule. Frank Nordhausen: "Es ist auch in der Vergangenheit sehr, sehr stark versucht worden, die Fälle eben nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, sondern sie nach Möglichkeit kirchenintern zu behandeln beziehungsweise, wenn es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, das möglichst schnell zu regeln. So dass ein solcher Aufklärungs-Tsunami, wie wir ihn jetzt erleben, gar nicht erst entstehen konnte."

 

Der Aufklärungs-Tsunami ist erst jetzt entstanden, Ende Januar, am Canisius-Kolleg in Berlin: Missbrauchsopfer hatten Druck gemacht, bis der Schulleiter einen Entschuldigungsbrief an ehemalige Schüler schreibt.  Dieser Brief landet bei der Berliner Morgenpost. Sie berichtet vom "Missbrauch an Berliner Elite-Schule" (28.01.10). Der Rektor spricht von systematischen und jahrelangen Übergriffen. Es ist ein Dammbruch: Noch am gleichen Tag lädt der Leiter des Canisius-Kollegs, Pater Mertes, zur Pressekonferenz und wählt die Flucht nach vorn. Er ringt nach Worten: "Ich schäme mich dafür, dass nichts unternommen worden ist."

 

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Interview

Frank Nordhausen, Redakteur der Berlinder Zeitung 5 Min

Frank Nordhausen erklärt: "In einer gewissen Weise ist er auch ein Getriebener gewesen, der reagiert hat auf Vorgänge, die an ihn herangetragen worden sind. Aber er hat wenigstens reagiert und er hat gut reagiert. Er hat es zum Thema gemacht, nicht nur an seiner Schule, sondern hier in der Stadt, letztlich im ganzen Land." Plötzlich berichten alle. Und das ganze Land ist entsetzt. Als hätte niemand etwas ahnen können. Peter Wensierski:  "Das ist eben ein Elite-Gymnasium gewesen, eine angesehene Schule in der Hauptstadt von Deutschland. Das waren die Kinder reicher Eltern, die dort zur Schule gingen und die jetzt plötzlich bekannten: Jawohl, wir sind auch sexuell missbraucht worden. Das hat natürlich eine ganz andere Öffentlichkeit bewirkt als einzelne Opfer irgendwo im Lande, die keiner kennt."

Mehr und mehr Fälle werden bekannt

Tag für Tag sind neue Schulen  betroffen, offenbaren sich Opfer, die in Talkshows bereitwillig erzählen.
Sandra Maischberger: "Das es nicht mehr ein Spiel war, eindeutig..." Gast bei Maischberger: Nein, das war kein Spiel mehr. Da, wo die Hand in meiner Hose war, da habe ich gewusst jetzt: Ui." (ARD, "Maischberger")
Maybrit Illner: "Wann fängt die Kirche an, von einem systemischen Problem zu sprechen?" (ZDF, Maybrit Illner)

 

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Interview

Peter Wensierski, Spiegel-Autor 25 Min

Davon sprechen jetzt die Medien. Die Journalisten stellen Fragen, viele in der Kirche weichen weiter aus. Peter Wensierski meint: "Bei der Recherche nach sexuellem Missbrauch stößt man auch als Journalist an Grenzen, an die Grenzen der katholischen Kirche. Es gibt kein Recht auf Akteneinsicht. Die Bischöfe, die Pressesprecher der Kirche bestimmen doch sehr stark, wie weit sie sich in die Karten blicken lassen." Und so sind die Mauern auch heute noch schwer zu durchblicken – obwohl immer mehr Schulen Transparenz versprechen.

Ein Kirchenanwalt tritt als Sonderermittler auf

So auch die Schule im Kloster Ettal. Sie präsentiert stolz den Münchner Anwalt Thomas Pfister als schonungslosen Aufklärer. Er erklärt: "Zusammenfassend bleibt als Zwischenergebnis meiner Ermittlungen festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche, welche dem Kloster zur Erzeihung anvertraut worden waren, durch zahlreiche Mönche des Kloster Ettals über Jahrzehnte hinweg massiv misshandelt worden sind. Und zwar in sexueller, physischer und psychischer Art und Weise." Thomas Pfister ist in Opferkreisen kein Unbekannter, denn er hat die Kirche bereits vertreten, gegen die Interessen der Opfer. Als Kirchenanwalt schrieb er den Opfern. So heißt es in einem der Briefe: "... die von Ihnen geltend gemachten Forderungen weise ich daher in vollem Umfang zurück." Gezeichnet: Thomas Pfister.

Und heute inszeniert die Kirche ihn als Sonderermittler. Franz Wittenbrink: "Man kann doch nicht jemand, der doch eindeutig Partei und eher nicht auf der Seite der Opfer steht, zu einer neutralen Institution erklären. Also das, denke ich, ist wirklich ein Schlag ins Gesicht der Opfer." Norbert Denef meint: "Es kann nie jemand sein, der bezahlt wird von der Kirche. Es kann auch kein Anwalt sein, der bezahlt wird von der Kirche, das geht nicht. Dessen Brot ich esse, dessen Lied ich sing, das ist einfach so."

Medien sind die Schuldigen

Auch das Bistum Regensburg hat Pfister bereits vertreten. Mit der Aufklärung tut sich dieses Bistum heute schwer, beklagt auf seiner Internetseite die "antikatholischen Medienkampagnen" und die "missbrauchte Pressefreiheit". Peter Wensierski: "Es ist aber immer in den Kirchen die Mentalität verbreitet, und das ist nicht nur beim Regensburger Bischof Müller so, dass die Medien die Schuldigen sind, dass die Überbringer der Nachrichten, dass auf sie eingeschlagen wird, dass sie die Schuldigen sind, statt wirklich die Probleme und die Schuld also in der eigenen Institution zu suchen, nachzugehen, und auch zu lösen."

Und so bleibt es vorerst dabei: Die Medien müssen weiter bohren. Die Opfer müssen Druck machen. Damit die Kirche den Skandal nicht wieder aussitzen kann. Peter Wensierski: "Die Täter hinter den Tätern müssen offen gelegt werden, das ist jetzt der nächste Schritt, das System des Vertuschens, Verschweigens und Versetzens muss offengelegt werden. Das ist jetzt das, was wir wissen wollen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass sich das nicht wiederholt."

Franz Wittenbrink: "Einerseits freue ich mich wahnsinnig, dass dieser ganze Mist endlich ans Tageslicht kommt und nicht mehr tabuisiert wird. Und andererseits sehe ich auch, dass die Journalistik ein bisschen auch den Weg  der großen Welle folgt, wie eine Schafherde. Wird in eine Richtung geblökt, blökt die Journalistik mit."

Jetzt aber sind die Mauern ins Wanken geraten, die Aufklärung hat gerade erst begonnen. Es gibt noch viel zu berichten.

 

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 17.03.2010 | 23:05 Uhr

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