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Zurück im Osten: Was ist in meiner Heimat los?

Dienstag, 06. März 2018, 21:15 bis 21:45 Uhr
Donnerstag, 08. März 2018, 02:15 bis 02:45 Uhr

Ich bin ratlos. Es ist August, kurz vor der Bundestagswahl. Die AfD wird bald mit einem zweistelligen Ergebnis ins Parlament einziehen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Vor allem in ostdeutschen Städten skandieren auf schön sanierten Marktplätzen Menschen ihre Parolen: "Merkel - hau ab!", "Volksverräterin", "Merkel ist eine Verbrecherin".

Es sind wütende AfD-Anhänger - auch in meiner Geburtsstadt in Brandenburg an der Havel. Die Bilder von diesen aufgebrachten Menschen gehen mir nicht aus dem Kopf. Was macht sie so wütend? Warum sind sie so hasserfüllt? Und sind diese Pöbler, die so laut "Merkel - hau ab" brüllen, repräsentativ für den Osten Deutschlands? Meine alte Heimat ist mir fremd geworden.

Birgit Wärnke © NDR Foto: Screenshot
Autorin Birgit Wärnke ist in Groß Kreutz aufgewachsen, lebt jedoch seit 20 Jahren in Hamburg.

Nach dem Abitur in den "Westen"

Vor knapp 20 Jahren habe ich mein Heimatdorf Groß Kreutz verlassen. Ich war ein typisches DDR-Kind: Kinderkrippe, Kindergarten, Jungpionier in der Grundschule, dazu Sporterziehung im Armee-Sport-Klub. Dann kam die Wende. Neues Schulsystem - aus der EOS wurde das Gymnasium. Nur Russisch mussten wir noch weiter lernen. Ich machte das Abitur und wollte weg, mit einem diffusen Gefühl von "im Westen habe ich bessere Chancen".

AfD in Brandenburg zweitstärkste Partei

Mit der Bundestagswahl tritt das ein, was viele befürchtet haben. Die AfD wird Teil unseres Parlaments. In Ostdeutschland wird diese Partei sogar zweitstärkste Kraft. Auch im Land Brandenburg. In meinem Heimatdorf in Groß Kreutz wählte fast jeder Fünfte diese Partei. Groß Kreuz ist ein Straßendorf, dem es im Speckgürtel Berlins schon immer ganz gut ging, auch zu Ostzeiten. Eine Obst- und Gemüseanbau-Region. Viel Landwirtschaft und Viehzucht. Circa zwei Drittel der 1.700 Einwohner haben Eigentum. Und die Arbeitslosenquote des Landkreises Potsdam Mittelmark liegt bei 4,5 % - der geringste Wert im Land Brandenburg.

Hakan © NDR Foto: Screenshot
Hakan kennt auch die AfD Wähler aus dem Dorf. Er glaubt, dass sie ratlos waren und sich von der Politik nicht gehört fühlen.

Ausländer gibt es hier kaum: Hakan ist der einzige mit türkischen Wurzeln im Dorf. Er betreibt den obligatorischen Dönerimbiss und ist akzeptiert im Ort. Und dann ist da noch ein vietnamesischer Textilladen - dort, wo früher der Konsum war. Und zwei italienische Restaurants. Das war es. Die nächste Flüchtlingsunterkunft ist Kilometer entfernt.

Für einige Tage kehre ich also zurück und ziehe in mein altes Zimmer bei meinem Vater. Ich möchte verstehen, was in meiner Heimat los ist.  

Stammtisch in der Garage

Meine erste Station: Eine Garage. Jeden Freitagabend trifft sich mein Vater mit fünf Freunden zur Männerrunde. Es ist sozusagen ihre Kneipe, eine Art Stammtisch. Diesmal darf ich ausnahmsweise dabei sein, weil ich doch noch eine von ihnen bin - Ossi, aber nicht mehr so ganz. "Du hast Dich schon in Richtung Wessi entwickelt, aber du musst ja in dieser Gesellschaftsordnung drüben im Westen Ellenbogen zeigen", sagt mein Vater gleich zu Beginn.

VIDEO: Garagenstammtisch (14 Min)

Die Kategorien "West-Ost", "drüben-hier" schwingen in dieser brandenburgischen Garage immer noch mit, auch knapp 28 Jahre nach der Wiedervereinigung. Wir diskutieren den Wahlerfolg der AfD, empfundene Ungerechtigkeiten, Ängste zu kurz zu kommen. Auf einmal kommen immer mehr Vorurteile gegenüber Flüchtlingen auf den Tisch. Ich bin überrascht, plötzlich geht es um Abgrenzung gegenüber Fremden und Sozialneid. Es ist auch eine Art Suche nach eigener Identität. Und ein Ringen um Antworten und Begrifflichkeiten.

"Seid ihr ausländerfeindlich?", will ich wissen. "Nein", sagen sie, "auf keinen Fall".  "Ausländerabgeneigt?" Zögern. "Asylfeindlich sind wir nicht", sagt der eine. "Für die, die es brauchen." "Nicht für alle." "Für Familien." Sie reden durcheinander. "Was seid ihr dann?" frage ich. "Flüchtlingsskeptisch?""Ja", rufen sie fast erleichtert, "das ist der richtige Begriff"."Aber Flüchtlingsskepsis", betonen sie, "ist kein Grund die AfD zu wählen."

"Früher in der DDR" war es besser

Aber woher kommt diese Flüchtlingsskepsis, diese Angst zu kurz zu kommen? Eine Frage beschäftigt mich schon länger: Hat das Wahlergebnis auch etwas mit der DDR-Vergangenheit zu tun? Ich treffe Marcel. Wir waren zusammen im Kindergarten, saßen nebeneinander auf dem Klettergerüst und warteten darauf, dass unsere Eltern uns nach der Arbeit abholten.

Marcel © NDR Foto: Screenshot
Marcel wünscht sich vom Staat mehr Bürgernähe und sehnt sich nach einer besseren Gemeinschaft.

Marcel ist 41 Jahre und anders als ich hier im Osten geblieben. Er ist Maurer und erzählt mir, dass er die AfD gewählt hätte, wenn er denn zur Wahl gegangen wäre. Auf die Frage nach dem "Warum"? antwortet er: "Aus Protest einfach. Damit die da oben mal einen Denkzettel kriegen." Die da oben, das sind für ihn die etablierten Parteien, CDU, CSU und SPD. 

Marcel war gerade mal 13 als die Mauer fiel. Trotzdem schwingt bei ihm ganz viel mit von "Früher in der DDR" war es besser. Da gab es eine Gemeinschaft, da wurde sich um alles gekümmert, jeder hatte Arbeit, jeder war abgesichert, auch im Alter. Marcel erzählt mir, dass er sich nach wie vor als Ossi sieht - ganz klar.

Ist das Stichwort Abgehängt sein?

Anders mein Schulfreund Oliver. Er ist 38 Jahre alt, wohnt in der Landeshauptstadt Potsdam, eine halbe Stunde von meinem Heimatdorf Groß Kreutz entfernt. Oliver arbeitet als Bauingenieur in Berlin.  Für ihn ist Ost-West keine Kategorie mehr.  Er spricht von Menschen, die sich abgehängt fühlen und da gebe es in den neuen Bundesländern einfach mehr. Denn noch immer hinkt der Osten dem Westen hinterher: schwächere Löhne, geringere Wirtschaftskraft. Aber ich frage mich, ist das wirklich eine Erklärung für den Erfolg der AfD?

Früher in der DDR hatten wir nicht viel. Heute gibt es viel, aber nicht jeder kann sich alles leisten. Ja, das macht unzufrieden, es gibt Unterschiede und Neid. Die Menschen vergleichen sich. Und da wirkt dann auf einmal die DDR in der Rückschau viel kuscheliger. Aber haben wir uns mit der Vergangenheit überhaupt schon ausreichend beschäftigt?

Verantwortung der Familie gegenüber

Birgit Wärnke und ihr Vater beim Angeln © NDR Foto: Screenshot
Birgit Wärnke und ihr Vater diskutieren beim Angeln über das Leben in der DDR.

Ich gehe mit meinem Vater angeln. Das haben wir früher oft gemacht. Heute machen wir das nur noch selten. Mein Vater ist 1950 geboren, kurz nach Gründung der DDR. Er war Sportoffizier in der NVA, er war auch Mitglied in der SED, er war aber nicht bei der Stasi. In den letzten Jahren habe ich auf meine vielen Fragen nur ausweichende Antworten bekommen.

Ich möchte wissen, wie er die 40 Jahre der DDR politisch einschätzt, ob es für ihn ein Unrechtsstaat war, ob soziale Absicherung für ihn wichtiger ist als Freiheit. Meinen Vater erlebe ich auf einmal sehr nachdenklich. Er sucht nach Worten, will sich mir gegenüber erklären. Er sagt, er habe seine Fahne in den Wind gehalten hat. Ich frage nach seiner Verantwortung und verstehe, dass er Verantwortung uns gegenüber, seiner Familie gegenüber, hatte und deswegen auch in dem System mit geschwommen ist.  

Viele warten immer noch auf den Brigadier

Was nehme ich mit von meinem Besuch in der Heimat? Bei vielen Menschen hier ist Ost-West noch in den Köpfen. Auch, wenn es nicht den einen homogenen Osten gibt, das Wahlergebnis hat aus meiner Sicht auch etwas mit der DDR Vergangenheit zu tun. Bei vielen Ostdeutschen gibt es diesen diffusen Wunsch nach staatlich organisierter Gemeinschaft, nach sozialer Absicherung. Es ist eine Art Verklärung der Vergangenheit.

Interview mit einer Lehrerin
Sabine Stoof

"Viele warten heute noch auf den Brigadier"

Wie ergeht es einer ehemaligen Deutschlehrerin aus DDR Zeiten? Ein Gespräch über Ost und West, die Schwierigkeiten der Wende und den Erfolg der AfD. mehr

Am Ende ist es meine alte Lehrerin Sabine Stoof, die mir die  vielleicht schlaueste Erklärung gibt, die ich bislang zur Frage "Was ist im Osten los?" gehört habe:

"Viele warten heute noch drauf, dass der Brigadier kommt und sagt: Na, komm, wir gehen mal ins Kino oder wir gucken uns mal ein Konzert an. Also: Sich selber nicht kümmern, sondern darauf warten, dass der Staat sich kümmert. Und wenn der Staat nicht hilft, dann helfen sie sich selber, indem sie das einzige tun, mit dem sie den Staat und die Merkel richtig ärgern können, indem sie die AfD wählen.

Autor/in
Birgit Wärnke
Redaktion
Lutz Ackermann
Anja Reschke
Produktionsleiter/in
Nicole Deblaere