Stand: 10.06.2014 17:22 Uhr

Von Amts wegen erwachsen

von Pia Lenz

Mujib ist 16 und hat eine lange Flucht hinter sich. Als er mit 14 Jahren den Taliban als Selbstmordattentäter dienen soll, entschließt sich seine Mutter, ihm zur Flucht zu verhelfen. Er verlässt Afghanistan, überquert  zehn Grenzen, ist einmal nahe dem Erfrierungstod und rappelt sich doch immer wieder auf. Im Februar erreicht er endlich Hamburg und hofft, dass seine Flucht hier beendet ist. Ein Trugschluss, wie sich schon nach einem Tag herausstellt. Beim Kinder- und Jugend-Notdienst sprechen sie 15 Minuten mit ihm, gucken ihn genau an und entscheiden: Er ist volljährig. Er ist groß gewachsen, wirkt, nicht zuletzt auch durch die Fluchterfahrungen, abgeklärt und älter, als er ist. Und das ist in diesem Fall von großem Nachteil.

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Flüchtlinge unter 18 Jahren genießen nämlich besonderen Schutz. Sie bekommen einen Vormund, können zur Schule gehen und dürfen nicht abgeschoben werden. Organisieren und bezahlen muss die sogenannte Inobhutnahme die Kommune, in Mujibs Fall die Stadt Hamburg. Aus Sicht der zuständigen Sozialbehörde ein Problem, denn da sich die Zahl der Flüchtlinge, die angeben unter 18 Jahre alt zu sein, in den vergangenen drei Jahren allein in Hamburg verfünffacht hat, sind Geld und Plätze knapp.

Minderjährige werden zu Erwachsenen

Und so werden in Hamburg die Ankommenden offenbar auch dahingehend begutachtet, ob sie nicht schon die 18 überschritten haben und gleich weitergereicht werden können. Da viele von ihnen keine gültigen Papiere haben, ist die Altersfeststellung umso schwieriger - und passiert nicht immer im Sinne der Jugendhilfe. Das erzählt ein Insider aus Kreisen der Hamburger Sozialbehörde im Interview mit Panorama 3. Er berichtet von Kollegen, die stolz behaupten, wieder vier oder fünf Minderjährige älter gemacht zu haben, um Plätze freizumachen. Die Sozialbehörde dementiert diese Abläufe.

Mujib hat sogar ein Papier, eine afghanische Geburtsurkunde, die seine Angaben bestätigt. Doch die Behörde glaubt dem Dokument nicht. Sie entscheidet sogar, er sei "eindeutig" über 18 Jahre alt und damit volljährig. Als Grund werden nach einer Inaugenscheinnnahme  "Bartwuchs", "ausgeprägte Stirnfalten" und ein "postpubertärer Körperbau" angebracht. Wäre sein Status für die Behörde unsicher, hätte er als nächstes sogar noch geröntgt werden müssen. Dann nämlich entscheiden in Hamburg Röntgenbilder des Kiefers und manchmal zusätzlich auch noch des Schlüsselbeins über das Alter des Flüchtlings.

"Röntgen zum Feststellen des Alters ist Körperverletzung."

Das Röntgenbild von einer Hand
Abschätzung des Alters anhand der Knochen? Offenbar kann man sich da leicht um bis zu fünf Jahre verschätzen.

"Wenn Ärzte Flüchtlinge röntgen, um ihr Alter festzustellen, ist das Körperverletzung", verurteilt der Magdeburger Kinder- und Jugendmediziner Prof. Klaus Mohnike das Hamburger Vorgehen. Röntgen sei medizinisch nur vertretbar, wenn die Untersuchung einen medizinischen Nutzen habe. Zudem sei es ausgeschlossen, anhand der Knochen das genaue Alter eines Menschen festzustellen. Die Schätzungen könnten bis zu fünf Jahre vom tatsächlichen Alter abweichen, zumindest bei Jugendlichen entscheidende fünf Jahre. Mit seiner Kritik steht der Mediziner nicht alleine. Schon 2007 fasste der Deutsche Ärztetag den klaren Beschluss, dass "die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten zur Feststellung des Alters mit aller Entschiedenheit abzulehnen ist".

Die Hamburger Sozialbehörde hält dennoch an dem Verfahren fest, alleine weil es, so der Sprecher der Sozialbehörde, Marcel Schweitzer, "schlichtweg keine bessere Methode gibt, die aussagekräftiger ist". Schließlich müsse man eine Regelung finden, um die wirklich hilfsbedürftigen, minderjährigen Flüchtlinge zu finden.  Denen würde dann sofort geholfen.

Langes Warten auf Unterstützung

Mujib hingegen wartet drei Monate lang vergeblich auf Hilfe von der Stadt. Er ist untergetaucht, wird von einer Beratungsstelle für Flüchtlinge betreut. Er leidet unter Schlafstörungen, Angstzuständen und  andauerndem Gewichtsverlust. Er ist traumatisiert und bedürfte dringend psychologischer Hilfe.

Die nun vielleicht auch kommt, wenn auch von anderer Seite. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle haben es geschafft von den afghanischen Behörden einen Pass zu besorgen. Der belegt:  Mujib ist am 13.10.1997 geboren und 16 Jahre alt. Doch der Landesbetrieb lehnt ab, den neuen Pass zu berücksichtigen und seine Einschätzung zu revidieren. Der Fall sei entschieden und abgeschlossen.  Erst als Panorama 3 ein weiteres Mal nachhakt, erklärt der Sprecher, dass Jugendliche unter 18 mit geltenden Papieren selbstverständlich in  Obhut genommen werden. Jetzt müssen ihm die Hamburgischen Behörden wohl glauben - und endlich helfen.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 10.06.2014 | 21:15 Uhr