Stand: 15.05.2025 21:45 Uhr

Hamas-Geiseln: Welche Rolle spielte "Bild"? (Manuskript)

Anmoderation Anja Reschke: "Seit 1½ Jahren wird Gaza bombardiert - all das hat unfassbar viel Leid, Verletzte und Tote gebracht. Im Gegensatz zu vielen anderen Auseinandersetzungen auf der Welt ist das ein Krieg, der einfach beendet werden könnten. Es liegt in der Hand eines einzelnen Mannes. Benjamin Netanjahu. Gerade erst hat Bundespräsident Steinmeier bei seinem Besuch in Israel eine friedliche Lösung angemahnt. Aber der israelische Premierminister scheint leider nicht auf uns zu hören. Interessant dabei vielleicht, dass er von ganz anderer Seite aus Deutschland Unterstützung bekommt. Denn in Netanjahus Strategie hat offenbar die BILDZEITUNG eine wichtige Rolle gespielt. Stefan Buchen."

Ende März. Israelische Soldaten marschieren erneut im Gazastreifen ein, in ein bereits großflächig zerstörtes Gebiet. Irgendwo unter der Erde hält die Hamas noch etwa 20 lebende israelische Geiseln gefangen.

O-Ton Benjamin Netanjahu, Premierminister Israel: "Ich habe den Rat der Armeespitze akzeptiert, die Hamas wieder intensiv anzugreifen. Von jetzt an werden wir mit steigender Feuerkraft vorgehen."

Kämpfen statt Verhandeln. Wird das die Geiseln retten? Idit Ohel hat Zweifel. Sie ist die Mutter eines Entführten. Sogar in Berlin macht sie auf das Schicksal ihres Sohnes Alon aufmerksam.

O-Ton Idit Ohel, Mutter eines Entführten: "In einem Tunnel, ohne frische Luft zum Atmen, seit 571 Tagen. Ich bin besorgt. Der Militärangriff kann die Geiseln gefährden."

O-Ton Moshe Zimmermann, Historiker: "Diese israelische Regierung will weiter Krieg führen. Bis zum bitteren Ende, d.h. bis zum absoluten Sieg."

Die Fortsetzung des Gaza-Krieges hat Vorrang vor einem Abkommen zur Freilassung aller Geiseln. Wie konnte Netanjahu diese Linie öffentlich durchsetzen? Welche Rolle spielt ausgerechnet die BILD-Zeitung dabei? Es ist ein Polit-Krimi im Krieg, den wir hier berichten, mit Festnahmen im direkten Umfeld von Netanjahu, Strafermittlungen und einer Anklage. Mittendrin: Die BILD-Zeitung.  Krieg oder Verhandeln - das Dilemma begann im letzten Spätsommer in Gaza, in diesem Tunnel. Während israelische Soldaten sich dem Tunnel nähern, werden unten sechs israelische Geiseln von ihren Hamas-Bewachern ermordet, durch Kopfschüsse.

O-Ton Ronen Bergman, Israelischer Investigativjournalist: "Das ist hier wie Blitz und Donner eingeschlagen. Das war genau das, wovor man Netanjahu gewarnt hatte. Das löste eine unglaubliche Wut aus."

Die entlädt sich auf Israels Straßen. Es sind die größten und heftigsten Proteste gegen Netanjahu seit Kriegsbeginn. Hauptforderung der Demonstranten: Verhandeln, damit die Geiseln freikommen. Schluss mit dem Krieg.

O-Ton Moshe Zimmermann, Historiker: "Man ging ja davon aus, dass das Militär in der Lage ist, Geiseln zu befreien. Hier sah man: die Geiseln wurden nicht befreit, sondern getötet. Die Regierung befand sich in einer schwierigen Situation. Sie musste etwas liefern, um sich aus diesem Engpass zu befreien.

Netanjahu mit dem Rücken zur Wand. Er liefert einen markanten Presseauftritt. Seine Botschaft: die Hamas wolle Krieg, da könne man nicht verhandeln. Wer Verhandlungen fordere, gehe der Hamas auf den Leim.

O-Ton Benjamin Netanjahu, Premierminister Israel: "Die Hamas will Zwietracht bei uns säen."

Die Hamas wolle die Israelis gegen ihn, den Premier, aufhetzen.

O-Ton Benjamin Netanjahu, Premierminister Israel: "Sie glauben, sie schaffen das. Aber das wird nicht passieren."

O-Ton Ronen Bergman, Investigativjournalist: "Netanjahu tritt vor die Presse.  Und er sagt: Hamas will unser Volk spalten. Es aufstacheln gegen den Regierungschef. Netanjahu will damit sagen: dass die Proteste, die ihn ja sehr stören, dass die die Hamas stärken. Und dann: große Überraschung:  bringt die BILD-Zeitung einen Artikel, in dem scheinbar genau das belegt wird, was Netanjahu behauptet hatte."

Am 6. September präsentiert die Bild einen Weltknüller: "Das plant der Hamas-Chef mit den Geiseln"- Exklusive Informationen aus dem Innern der Hamas. Kernbotschaften des Hamas-Dokumentes: "Ein schnelles Kriegsende ist der Hamas egal. Verhandeln lohne sich demnach also nicht wirklich". Und: "Durch das Quälen der Geiseln will die Hamas die Israelis dazu bringen, sich gegen die eigene Regierung zu stellen." Die Geiselangehörigen und Demonstranten stehen quasi als Verbündete der Hamas da. BILD hat scheinbar belegt, dass Verhandeln nichts bringt. Das veranlasst den bedrängten Netanjahu zu einer lobenden Erwähnung der Deutschen.

O-Ton Benjamin Netanjahu, Premierminister Israel, 8.9.2024: "Die deutsche BILD-Zeitung hat Informationen veröffentlicht, die den Plan der Hamas enthüllen. Sie wollen uns von innen zerreißen."

O-Ton Ronen Bergman, Autor für Yediot Aharonot, New York Times: "Das hat viele Menschen bei uns verunsichert. Vielleicht ist etwas dran, was Netanjahu sagt. Vielleicht sind die Demos wirklich nicht gut. Steht doch in der BILD."

O-Ton Moshe Zimmermann, Hebräische Universität Jerusalem: "Der Artikel in der Zeitung BILD war ein Instrument, ein wichtiges Instrument. Das ist eben die psychologische Kriegsführung von Seiten der israelischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung, sogar gegen die Familien der Meistbetroffenen, die Familien der Geiseln."

Die Familien der Geiseln beleidigt als nützliche Idioten der Hamas, von Netanjahu, mit freundlicher Unterstützung der BILD. Ihnen geht es um eines: Ihre Angehörigen lebend wiederzusehen. Sie wollen Verhandlungen, keinen Krieg. Yahuda Cohen ist Vater von Nimrod, Soldat, entführt am 7.Oktober 2023.

O-Ton Yahuda Cohen, Vater eines Entführten: "BILD hat Netanjahu geholfen. Netanjahu hat hier ein schmutziges Spiel gespielt. Er hat hier eine gut geölte Meinungsmaschine aufgebaut, eine Giftmaschine. Die beschimpft jeden, der Netanjahu kritisiert. Die deutsche BILD-Zeitung ist Teil dieser Giftmaschine geworden."

Unsere Recherche legt offen, wie der Knüller hinter den Kulissen vorbereitet wurde. In Tel Aviv läuft ein Strafverfahren wegen Geheimnisverrats, in dem die BILD quasi als Komplizin geführt wird.

Das "geheime Kriegspapier" der Hamas, auf dem der BILD-Artikel beruht, stammt tatsächlich aus den Reihen des Militärgeheimdienstes der Terrorgruppe. Die israelische Armee hat es vor einem Jahr in Gaza erbeutet. Wir kennen den Hamas-Text. BILD hat zwar korrekt zitiert, aber nicht alles. Denn aus dem Dokument lässt sich auch ableiten, dass Hamas durchaus an einem Abkommen interessiert ist. Das fehlt bei BILD.

Wie kam die BILD nun an das Geheim-Papier? Die Spur führt in dieses israelische Gericht. Hier laufen die Ermittlungen wegen Geheimnisverrats zusammen. Nach Erscheinen des BILD-Artikels werden zwei Verdächtige festgenommen. Der Reserveoffizier Ari Rosenfeld und Eli Feldstein, Militärsprecher von Netanjahu. Sie werden der Weitergabe des Hamas-Papiers beschuldigt. Der Haftrichter formuliert einen scharfen Vorwurf: Die Beschuldigten hätten das Kriegsziel gefährdet, die Geiseln zu befreien.

O-Ton Ronen Bergman, Investigativjournalist: "In dem Moment, wo dieses Dokument veröffentlicht wird, wird eine Informationsquelle des israelischen Geheimdienstes gefährdet. Diese Quelle hat auch die Aufgabe, Geiseln zu retten."

Rosenfeld und Feldstein werden angeklagt. Und es gibt einen weiteren Verdächtigen: Jonathan Urikh. Er und Feldstein sind enge Vertraute von Regierungschef Benjamin Netanjahu. 

O-Ton Moshe Zimmermann, Historiker: "Das sind Leute, die nicht gewählt worden sind. Das sind keine Knesseth-Abgeordneten. Das sind Leute, die in seinem Büro arbeiten, die die Drähte haben zur BILD-Zeitung und die haben die Drähte so aktiviert, dass am Ende das Produkt stand."

Laut Anklage gab Rosenfeld das Hamas-Papier an Feldstein. Der wollte es eigentlich in Israel veröffentlichen. Aber Journalisten weigerten sich, weil es illegal gewesen wäre. Da fragt Feldstein seinen Komplizen Urikh: "Wen hast Du im Ausland, der eine große Geschichte raushauen könnte?

Was Großes ist im Anmarsch." Die Lösung ist schnell gefunden. Feldstein lässt das Papier dem Vize-Chef der BILD, Paul Ronzheimer, und einem Co-Autor zukommen. Ronzheimer scheint als Abnehmer prädestiniert. Er ist mit Netanjahu vertraut, weil er ihn schon zweimal im Krieg interviewt hat. Kurz nach Erscheinen des BILD-Exklusivartikels schreibt der Netanjahu-Vertraute Urikh an Feldstein: "Entspann Dich, der Boss ist zufrieden."

O-Ton Ronen Bergman, Autor für Yediot Aharonot, New York Times: "Ich verstehe nicht, wie diese Leute morgens aufstehen und in den Spiegel gucken? Diese Leute betreiben eine Desinformationskampagne, die das Ziel hat, einen Geiseldeal zu behindern. Was sagen die sich, wenn die morgens aufstehen, sich die Zähne putzen und sich im Spiegel sehen? Was denken die über sich selbst?"

Wir fragen den Springer-Konzern: Was sagen sie zu dem Vorwurf, dass BILD sich von Netanjahu hat einspannen lassen? Antwort: "Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu redaktionellen Prozessen und Quellen grundsätzlich nicht äußern oder diese kommentieren." Die Angehörigen der Geiseln hoffen auf die Freilassung ihrer Liebsten. Sie sind überzeugt: ein Abkommen zur Freilassung aller verbliebenen Geiseln ist nötig. Der Krieg müsse endlich beendet werden.

Bericht: Stefan Buchen
Kamera: Torsten Lapp, Michael Shubitz
Schnitt: Stephan Sautter, Thomas Schlottmann         

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Das Erste | Panorama | 15.05.2025 | 21:45 Uhr

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