Die Nordreportage

Die Nordreportage: Roter Hahn - ein Dorf in Lübeck - Sozial - besonders - für alle

Montag, 15. Mai 2023, 18:15 bis 18:45 Uhr
Dienstag, 16. Mai 2023, 11:30 bis 12:00 Uhr

Wer an die Hansestadt Lübeck denkt, dem kommen Kontorhäuser, Koggen, Marzipan und norddeutsche Backsteinarchitektur in den Sinn, aber nicht unbedingt Kücknitz im Nordosten der Stadt. Im alten Arbeiterstadtteil haben rund 20.000 Menschen aus mehr als 100 Ländern ihre Heimat gefunden. Mittendrin zwischen Herrentunnel, Bahngleisen und Wohngebieten mit viel sozialem Wohnungsbau liegt der Geschichtserlebnisraum Roter Hahn, kein Freiluftmuseum und auch nicht ausschließlich eine Kinder- und Jugendeinrichtung. Hier treffen sich Kücknitzer aller Altersgruppen und Herkunft: im Stadtteilcafé, auf dem Bauspielplatz oder einmal im Jahr zum großen Frühlingsfest. Denn der Rote Hahn ist ihr Dorf mitten in der Großstadt.

Die Klosterbaustelle. © NDR
Die Klosterbaustelle.

"Ich weiß nicht, wo ich jetzt wäre, wenn ich nicht als Kind jeden Tag hier hätte sein können. Der Bau bedeutet mir alles", sagt Bianca Streich. Die 24-Jährige kommt mittlerweile mit ihren beiden Kindern zum einstigen Bauspielplatz, der mittlerweile viel mehr ist als damals, als sie ein Kind war.

Am Anfang war die Skepsis groß

Seit 23 Jahren, und damit seit Tag eins, dabei ist Frank Thomas. Der Rote Hahn ist sein Lebenswerk. "Als wir hier anfingen, war die Skepsis groß, dass wir hier in dieser Gegend Erfolg haben werden. Kücknitz hatte einen sehr schlechten Ruf. Das hat sich geändert." Der Anteil des Sozialpädagogen an dieser Entwicklung ist kaum zu bemessen. Frank Thomas lebt den Roten Hahn. Auch Bianca Streich kennt er schon aus ihren Kindertagen. Was sie sagt, berührt ihn: "Wir haben schon richtiges Dorfleben hier. Jeder hilft jedem und jeder kann sein wie er ist."

Regeln gibt es allerdings schon, und wer sich nicht daran hält, der kann auch Platzverbot bekommen. Doch so weit wollen es Frank Thomas und seine Mitstreiter nicht kommen lassen. Eine Gruppe Jungs im Teenageralter zum Beispiel, die als unbeschulbar gelten, haben sie auch unter ihre Fittiche genommen. Viele ihrer Schützlinge haben mittlerweile einen Schulabschluss nachgeholt oder eine Lehrstelle gefunden.

In der Ecke des Cafés sitzt einer von ihnen und lernt Mathe für seinen Hauptschulabschluss. Ihm zur Seite sitzt Walter. Der Rentner hilft ihm bei den Gleichungen. Wegen aller Probleme "da draußen" ist der Rote Hahn eine Anlaufstelle für viele geworden.

Der "Steinzeitmensch" Manfred

In einer der nach historischem Vorbild erbauten Blockhütten aus der Wikinger- oder Slawenzeit sitzt Manfred. Den "Steinzeitmenschen" nennen sie ihn hier alle nur. De 68-Jährige fertigt wie einst die Stämme nach der letzten Eiszeit nur mit seinen Händen Seile und Schnüre aus Brennessel- oder Birkenfasern. Ihm ist es ein Anliegen, diese Kulturtechnik auch jungen Menschen nahezubringen. "Mein Hobby kostet mich kein Geld. Alles was ich brauche, finde ich hier im Kaufhaus Natur."

Nicole Völschow ist Schulleiterin der Grundschule Roter Hahn. Mit vier Kindern der ersten Klasse holt sie die Schafe vom Roten Hahn ab. Gemeinsam mit Schäfer Hardy treiben sie die Tiere rund anderthalb Kilometer mitten durch Kücknitz direkt auf den Schulhof. "Viele Kinder aus der Großstadt haben keine Berührungspunkte mehr mit der Natur und mit Tieren", sagt die Schulleiterin. Durch die enge Kooperation ändert sich dies, der Sachkundeunterricht wird erlebbar. "Wir hier im Stadtteil halten alle zusammen. Und man kann nicht genug hervorheben, wie wichtig die Einrichtung hier für die Menschen und vor allem für die Kinder ist", so die Schulleiterin. Bis vor Kurzem galt Nicole Völschows Schule als "Brennpunktschule". Das hat sich geändert. Inzwischen bringen Eltern aus Travemünde oder Timmendorfer Strand ihre Kinder bewusst hierher.

Ein Wandergeselle findet hier einen Job

Wandergeselle Jens arbeitet zwei Monate beim Roten Hahn. © NDR
Wandergeselle Jens arbeitet zwei Monate beim Roten Hahn.

Das Gelände ist offen, jeder kann zu jeder Zeit über den Hof schlendern. Und so kommt es immer wieder zu ungewohnten Begegnungen. Auf einmal steht Maurer Jens vor Frank Thomas. Der Däne ist Wandergeselle und auf der Suche nach einem Job. Wie gut, dass es hier eine große Baustelle gibt, denn bis 2026 entsteht auf dem Roten Hahn der Nachbau eines mittelalterlichen Klosters. Noch besser, dass Jens viel Wert auf Tradition und alte Handwerkstechniken legt. Fast zwei Monate lang findet er als Gegenleistung für seine Arbeit hier ein Zuhause.

Schon länger hat dies der Lübecker Künstler Felix Karweick gefunden. Der bildende Künstler kennt Frank Thomas, seitdem sie zusammen in einer Studentenkneipe Bier zapften. Nun ist Karweick, Jahrgang 1972, die treibende Kreativkraft: Eine Holzkirche nach romanischem Vorbild hat er bereits auf dem Gelände mit biblischen Motiven bemalt. Nun steht er im Kloster und rührt nach althergebrachten Techniken Farben an. Zwei Kinder aus der Nachbarschaft sitzen ebenfalls im fertiggestellten Teil des Klosters und schauen Felix Karweick zu oder widmen sich eigenen Kunstprojekten.

Auch die Holzkirche hat Felix Karweit gestaltet. © NDR
Auch die Holzkirche hat Felix Karweit gestaltet.

Im Laufe des Jahres kommen die neuen Klosterfenster, gefertigt aus Bleiglas mit den Glaserazubis der Lübecker Berufsschule. Eine besondere Aufgabe und Herausforderung für alle.

Ein großes Frühlingsfest für alle

Ende April feiern die Macher vom Roten Hahn ein großes Frühlingsfest für alle Kücknitzerinnen und Kücknitzer, ein echter Höhepunkt für alle. Doch so richtig will der Winter noch nicht gehen. Und so stocken die Vorbereitungen.

"Die Nordreportage" zeigt die soziale Einrichtung, die den Stadtteil prägt und verändert hat. Begleitet werden Menschen, die sich seit Jahrzehnten mit Leidenschaft und Herzblut für den Roten Hahn engagieren. Die dafür sorgen, dass aus dem einstigen Problembezirk ein besserer Ort für viele geworden ist.

Autor/in
Jon Mendrala
Produktionsleiter/in
Thorsten Köpp
Redaktion
Sven Nielsen
Redaktionsleiter/in
Katrin Glenz