Sendedatum: 19.09.2014 11:15 Uhr

Die Amerika-Phase

Wie klingt Amerika? Diese Frage führt den 50-jährigen Antonín Dvořák und seine Familie in die USA. Ein großer Auftrag wartet auf den Komponisten: Er soll eine Musik schreiben, die das Nationalgefühl der Amerikaner transportiert. Nach langem Überlegen nimmt er die Herausforderung an.

Im Sommer des Jahres 1891 erhält Antonín Dvořák in Prag ein Telegramm: Das nationale Musikkonservatorium der USA fragt ihn, ob er bereit wäre, die Stelle des Direktors und Kompositionslehrers der Hochschule in New York anzunehmen. Der weltweit berühmte Komponist ist zwar schon weit gereist - in Amerika aber ist er noch nie gewesen.

Ein Sommer, der alles verändert

Lange überlegt Dvořák, ob er den mehrjährigen Arbeitsvertrag annehmen soll. Die gute Bezahlung dieser Stelle ist sehr verlockend und verspricht der achtköpfigen Familie große finanzielle Sicherheit. Andererseits liebt Dvořák seine böhmische Heimat. Er weiß nicht, was ihn in der "Neuen Welt" erwartet und er will auch seine Familie und Freunde weiterhin um sich haben. Am Ende entscheidet er sich, bestimmt auch von Neugier und Abenteuerlust gepackt, in die USA zu gehen.

Abschied von der Heimat und Ankunft in der schönen neuen Welt

Mit einer großen Konzerttournee durch Böhmen nimmt Dvořák Anfang des Jahres 1892 Abschied von der Heimat. Auch von ihren vier jüngsten Kindern müssen er und seine Frau sich verabschieden, denn mit nach Amerika können nur die ältesten Kinder Otilie und Antonín kommen. Im September 1892 besteigen die vier Dvořáks in Bremen einen Dampfer, der sie in neun Tagen über den Atlantik nach New York bringt.

Schwarzweiß-Gruppenfoto der Familie Dvořák. © akg-images Foto: unbekannt/historisch
Die Familie Dvořák im Jahr 1892 nach ihrer Ankunft in New York.

Bei der Ankunft auf Staten Island ist Dvořák sogleich überwältigt vom Anblick der Freiheitsstatue und den vielen Schiffen aus allen Erdteilen. Für diese Schiffe entwickelt er bald eine ähnliche Leidenschaft wie für Lokomotiven: Schon zu Hause in Prag ist er oft frühmorgens aufgestanden, um am Bahnhof Zugtypen und Abfahrtszeiten zu protokollieren. In New York fährt er nun auch regelmäßig zum Hafen, um alle technischen Details der Schiffe zu studieren.

Dvořáks große Aufgabe

Von Dvořáks Arbeit als Direktor des Musikkonservatoriums verspricht sich deren Gründerin Jeanette Thurber ziemlich viel: Dvořák soll den Amerikanern nichts weniger als ihre eigene Nationalmusik beibringen. Das Musikleben in New York unterscheidet sich damals aufgrund der vielen Einwanderer kaum von demjenigen in Europa. Und genauso, wie sich Dvořák in Tschechien einst für die Herausbildung einer eigenständigen, "tschechischen" Musik eingesetzt hat, soll er das Gleiche nun also in Amerika versuchen.

Aber welche Musik ist eigentlich spezifisch "amerikanisch"? Das weiß niemand so genau, und gerade Dvořák kann als Neuankömmling natürlich keine konkrete Vorstellung davon haben. Auf der Suche nach "echt amerikanischer" Musik lässt er sich von einem schwarzen Gesangsstudenten am Konservatorium einige Spirituals und Plantagenlieder aus den Südstaaten vorsingen. Außerdem besorgt ihm ein Freund eine Sammlung von Indianermelodien. Aus dem Geiste dieser Lieder will Dvořák die amerikanische Nationalmusik entwickeln.

Die Sinfonie "Aus der Neuen Welt"

Das erste Werk, das Dvořák in Amerika schreibt, ist seine 9. Sinfonie in e-Moll. Den Beinamen "Aus der Neuen Welt" schreibt der Komponist selbst über die Partitur, was bei den Amerikanern natürlich ausgesprochen gut ankommt. Seit der Uraufführung dieser Sinfonie, die am 16. Dezember 1893 unter stürmischem Jubel des Publikums in der berühmten New Yorker Carnegie Hall stattfindet, versucht man, das "Amerikanische" dieser Musik genau zu bestimmen.

Zeichnung mit schwarzer Farbe auf weißem Grund. Dirigent leitet Orchester im Konzertsaal. © picture-alliance / ©Costa/Leemage Foto: Costa
Dvořák dirigiert Ende 1893 in der Carnegie Hall die 9. Sinfonie.

Tatsächlich scheint Dvořák einige Elemente der Spirituals oder "Indianerlieder" aufgegriffen zu haben. So klingt der Synkopen-Rhythmus des Hauptthemas aus dem ersten Satz für viele Hörer ebenso amerikanisch wie das dritte Thema, bei dem man sogar Anklänge an "Swing Low, Sweet Chariot" ausmachen kann. Beim breiten Gesang des Englischhorns im zweiten Satz wiederum meint man die weite Prärie Amerikas vor dem geistigen Auge zu sehen. Die rhythmisch wilden Klänge des dritten Satzes erinnern viele an einen Indianertanz.

Manche Interpreten behaupten aber auch, Dvořák habe als Ausdruck seiner Sehnsucht nie so "tschechisch" komponiert wie in seiner 9. Sinfonie.

Sommerurlaub auf dem Land

In den Sommerferien zieht sich Dvořák mit seiner Familie in das ländliche Dorf Spilville im US-Staat Iowa zurück. Hier besteht die Bevölkerung hauptsächlich aus tschechischen Einwanderern, so dass Dvořák sich sehr heimisch fühlt. Er genießt die Natur, geht spazieren, spielt mit Freunden Kammermusik und komponiert ein "Amerikanisches Streichquartett", in dessen drittem Satz er sogar den Ruf eines einheimischen Vogels einarbeitet. Von Spilville aus unternimmt Dvořák auch Ausflüge in die Umgebung und bestaunt zum Beispiel die Niagarafälle.

Sehnsucht nach der Heimat

Nach fast drei Jahren in Amerika ist die Sehnsucht nach der Heimat und nach seinen Kindern bei Dvořák schließlich so groß, dass er seine Stelle am New Yorker Konservatorium aufgibt und für die letzten Jahre seines Lebens nach Prag zurückkehrt.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Dvořák-Experiment | 19.09.2014 | 11:15 Uhr

Orchester und Vokalensemble