Schulbegleiter: Von der Notlösung zur Dauerlösung

Stand: 16.01.2024 20:17 Uhr

Viele Kinder mit Einschränkungen sind auf Schulbegleiter angewiesen, um eine Regelschule besuchen zu können. Doch die arbeiten oft unter prekären Bedingungen. Einmal als Notlösung gedacht, ist ihr Einsatz zum Dauerzustand geworden.

von Sinje Stadtlich

Marlene Starke geht in die dritte Klasse einer Hamburger Grundschule. Dabei sollte es eigentlich keine Rolle spielen, dass sie in einem Rollstuhl sitzt und nur mithilfe eines speziellen Computers sprechen kann. Denn seit Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, haben Schüler ein Recht auf inklusive Bildung.

Marlene Starke sitzt in einem Rollstuhl. © NDR
Marlene Starke ist auf Schulbegleitung angewiesen.

Förder- und Sonderschulen sollen abgebaut werden und alle Kinder, egal ob mit oder ohne körperliche, geistige oder seelische Einschränkungen, gemeinsam in den Regelschulen lernen können. Weil die Schulen in der Realität oft nicht so ausgestattet sind, dass das funktioniert, gibt es Schulbegleiter.

"Ein ganz fragiles System" für Eltern

Marlenes Eltern berichten, dass ihre Tochter im Laufe ihrer ersten Schuljahre schon mindestens acht verschiedene Schulbegleiter hatte. Deren Aufgabe ist es, Marlene den Schultag über zu begleiten, ihr beim Essen und beim Toilettengang zu helfen und sicherzustellen, dass sie am Unterricht teilnehmen kann.

Vater Markus Starke erzählt, wie abhängig die ganze Alltagsorganisation der Familie davon ist, dass der Schulbegleiter zuverlässig ist: "Ganz schwierig ist immer die Situation, wenn am späten Abend eine WhatsApp eintrudelt: 'Ich fühle mich leider nicht so wohl und ich kann morgen nicht kommen.'" Dann beginnt das verzweifelte Herumtelefonieren, denn Marlenes Eltern sind beide berufstätig und können nur zur Arbeit, wenn ihre Tochter in der Schule ist. "Manchmal fragen auch Freunde: 'Wo ist denn die Marlene heute, ist die krank?' Und wir sagen dann: 'Nee, die konnte nicht kommen, sie hatte heute keinen Schulbegleiter'", berichtet Amelie Starke. Sie fügt hinzu: "Und außerdem hat Marlene ja auch ein Recht auf Schule".

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Prekäre Arbeitsbedingungen

Schulbegleitung ist kein eigenständiger Beruf. Die Menschen, die in dem Bereich arbeiten, haben die unterschiedlichsten Hintergründe und Qualifikationen. Sie sind nicht bei den Schulen angestellt, sondern bei externen Trägern wie der Caritas oder der Lebenshilfe, oder bei kleineren privaten Trägern. Die Arbeitsbedingungen sind oft nicht sehr attraktiv - viele Schulbegleiter berichten uns, sie verdienten zu wenig, um davon gut leben zu können. Ihre Verträge sind oft daran gekoppelt, wie viele Stunden Begleitung ein Schüler bewilligt bekommt.

Zuständig für die Bewilligung sind in den meisten Bundesländern die Jugendämter (bei emotional-sozialem Förderbedarf wie zum Beispiel bei ADHS oder Autismus) und die Sozialämter (bei körperlichen und geistigen Behinderungen). Wenn das Jugendamt zum Beispiel bei einem Kind die Stundenzahl kürzt, kann auch der Schulbegleiter oder die Schulbegleiterin weniger arbeiten und verdient weniger. In den Sommerferien müssen sich viele arbeitslos melden.

Reformvorschläge und politische Reaktionen

Bettina Lindmeier © NDR
Bettina Lindmeier plädiert für mehr Verantwortung für Schulen.

Bettina Lindmeier, Professorin für Sonderpädagogik an der Universität Hannover, erklärt, Schulbegleitung sei eigentlich zu Beginn nur eine Notlösung gewesen, für besonders stark eingeschränkte oder traumatisierte Kinder. "Mittlerweile hat es sich aber zur Hauptlösung entwickelt", sagt sie. "Das müssten wir jetzt anerkennen und überlegen, wie wir das System besser aufstellen können." Aus Lindmeiers Sicht müssten die Schulen daher viel mehr Verantwortung bekommen. Die Schulbegleiter sollten zum Schulteam gehören und nicht über die Jugend- und Sozialämter beantragt werden müssen, so ihr Vorschlag. Das würde auch die Planbarkeit und die Sicherheit für die Schulbegleiter deutlich erhöhen.

Bei der Politik in Norddeutschland stößt diese Idee allerdings auf wenig Begeisterung. Das niedersächsische Sozialministerium schreibt auf Nachfrage, Schulbegleitung sei ein Individualanspruch, "um die Barrierefreiheit zur Teilhabe an Bildung sicherzustellen. Die Forderung, Schulbegleiter müssten zum Schulteam gehören und direkt bei der Schule angestellt sein, kann daher schon allein aufgrund der Rechtsgrundlage nicht umgesetzt werden." Und auch das schleswig-holsteinische Bildungsministerium argumentiert ähnlich: "Es gibt (…) eine sehr professionelle Teamarbeit an den Schulen - und zwar trotz unterschiedlichen Arbeitgebern oder Anstellungsträgerschaften. Diese resultieren aus unterschiedlichen Rechtsgrundlagen."

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Schulbegleitung als "echter Beruf"

Nils Diers © NDR
Nils Diers will, dass das Berufsbild der Schulbegleitung klarer definiert wird.

Der noch relativ junge Fachverband Schulbegleitung setzt sich für die Vernetzung von Schulbegleitern und für ein klares Berufsbild ein. "Es braucht ein Berufsbild, es braucht Standards, es braucht all die Dinge, die es für jede andere Berufsgruppe auch gibt", fordert der Vorsitzende Nils Diers. "Insbesondere weil Schulbegleiter und Schulbegleiterinnen mit diesen schwierigen, verhaltensauffälligen Kindern und körperlich stark beeinträchtigten Kindern arbeiten."

Doch auch dieser Wunsch scheint aktuell eher eine Utopie zu bleiben. So schreibt uns etwa das Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern: "Da die Leistungen im Einzelfall vom individuellen Bedarf der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen abhängen, kann Schulbegleiterin und Schulbegleiter gerade kein klar definierter Beruf sein."

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 16.01.2024 | 21:15 Uhr