Fehlende Unterstützung: Opfer sexuellen Missbrauchs im Stich gelassen

Stand: 16.03.2021 18:48 Uhr

In Deutschland werden laut Polizeistatistik jedes Jahr mehr als 12.000 Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch. Diese Taten wirken bei den Betroffenen ein Leben lang nach.

von Katrin Kampling

Manche Erlebnisse sind so grausam, dass sie erst Jahrzehnte später verarbeitet werden können - wenn überhaupt. Wenn man sie überlebt hat. Helene Schneider (Name von der Redaktion geändert) ist es so ergangen. Sie wurde durch die eigene Familie missbraucht, über viele Jahre hinweg. "Es ist für mich selbst so unvorstellbar, dass diese Menschen das getan haben, dass ich es bis heute eigentlich nicht glauben kann", erzählt sie. Sie leidet bis heute unter den Folgen.

Eine Person, die unerkannt bleiben möchte, in einem Interview © NDR / ARD Foto: Screenshot
Helene Schneider (Name von der Redaktion geändert) leidet bis heute unter den Folgen des sexuellen Missbrauchs durch ihre Familie.

Menschen wie Helene Schneider nennen sich "Überlebende". Sie sind eine große Gruppe. Jedes Jahr erfahren mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sexualisierte Gewalt - das sind die offiziellen Zahlen aus der Polizeistatistik. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch

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Fonds soll Überlebenden helfen

Überlebenden wie Helene Schneider soll ein Fonds helfen, der beim Familienministerium angesiedelt ist: der "Fonds sexueller Missbrauch". Bis zu 10.000 Euro können Betroffene hier beantragen, etwa für medizinische Leistungen wie Trauma- oder Schmerztherapie, aber auch für Hilfsmittel, die den Alltag erleichtern.

Entstanden ist er 2013 als ein Ergebnis des "Runden Tischs Sexueller Kindsmissbrauch", der nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an katholischen Einrichtungen und der hessischen Odenwaldschule eingerichtet wurde. Nach Angaben des Jahresberichts 2019 sind beim Fonds bis Ende 2019 insgesamt rund 13.500 Anträge eingegangen.

Schnell und unbürokratisch? Fehlanzeige

Franziska Giffey © NDR Foto: Screenshot
Familienministerin Franziska Giffey kündigte einst unbürokratische Hilfe an. Ein Interview will sie uns nicht geben.

Der Fonds solle schnell und unbürokratisch helfen, so das Versprechen. Nach Startschwierigkeiten und Reformversuchen versichert auch Familienministerin Franziska Giffey 2018 vollmundig, der Fonds werde "Missbrauchsopfer besser und schneller unterstützen", denn Betroffene müssten sich darauf verlassen können, schnelle Hilfe zu erhalten.

Doch Panorama 3-Recherchen zeigen, dass viele Betroffene beim Fonds weiterhin das Gegenteil erleben. Wie Helene Schneider, die im Frühjahr 2017 ihren Antrag stellt und von dem Geld unter anderem Therapien bezahlen will. Ein halbes Jahr werde es sicher dauern, denkt sie. Doch es kommt und kommt keine Antwort. Die Wartezeit wird für sie eine Qual, drängt sie immer wieder in die Rolle des Opfers zurück, aus der sie sich über Jahre mühevoll herausgearbeitet hatte, erzählt sie. Sie fühlt sich klein, machtlos, ausgeliefert. "Das war schon ein Kraftakt, sich davon nicht den Tag bestimmen zu lassen und auch nicht die Woche."

Rechnungen erst nach Monaten beglichen

Auch Britta Meyer (Name von der Redaktion geändert) hat unter der Antragsstellung beim Fonds sehr gelitten. Der Fonds sollte ihr die Fortsetzung der Trauma-Therapie zahlen, nachdem das Stunden-Kontingent bei der Krankenkasse aufgebraucht war. Sie musste über ein Jahr warten, bis ihr Antrag bewilligt wurde.

Doch trotz der Bewilligung zahlt der Fonds die Rechnungen ihrer Therapeutin nicht. "Ich bekomme Therapiestunden, die mich wirklich am Leben gehalten haben, und meine Therapeutin bekommt kein Geld dafür", sagt Britta Meyer. "Es schleicht sich sowas ein wie: Vielleicht bezahlen sie das gar nicht. Oder vielleicht kann meine Therapeutin das noch 14 Tage machen und dann ist Schluss." Auf ihre eigene Heilung konzentrieren kann sie sich kaum.

Knapp sieben Monate hat es gedauert, bis die erste Rechnung ihrer Therapeutin beglichen wurde. In dieser Zeit musste Therapeutin Angela Kauffmann ganze Sitzungen darauf verwenden, Britta Meyer wieder zu beruhigen und zu stabilisieren. "Es ist ein Riesenpotenzial, das durch den Fonds geschaffen wurde - und das verpufft", sagt Kauffmann. Bei manchen ihrer Patientinnen habe der Fonds den Therapieerfolg stark gefährdet.

Matthias Seestern-Pauly © NDR / ARD Foto: Screenshot
Matthias Seestern-Pauly von der FDP kritisiert die bisherige Bürokratie und fordert eine schnelle Lösung.

Für den FDP-Familienpolitiker Matthias Seestern-Pauly ist das wenig überraschend. Das Problem sei dem Familienministerium seit 2017 bekannt, sagt er. Es sei inakzeptabel, dass jahrelange Therapien und Heilungsprozesse durch den Fonds gefährdet würden: "Diese unerträgliche Bürokratie muss kurzfristig auch von der Bundesfamilienministerin Giffey angegangen werden. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt."

Familienministerium gibt kein Interview

Familienministerin Franziska Giffey will Panorama 3 zum Fonds kein Interview geben. Schriftlich teilt ihr Ministerium mit, zu Einzelfällen könne man sich nicht äußern. Die Bearbeitungszeit für "neu eingehende Anträge" liege im Durchschnitt bei "6,1 Monaten". Man sei sich bewusst, dass "Rückstände in der Antrags- und Rechnungsbearbeitung eine große Belastung" für die Betroffenen darstelle. Man arbeite "mit Hochdruck daran, bestehende Rückstände (...) abzubauen und Wartezeiten zu verkürzen". Die Rechnungsbearbeitung habe "absolute Priorität". Die Mitarbeitenden seien "für die Kommunikation mit traumatisierten Anrufenden geschult".

"Im Nachhinein hätte ich es besser nicht gemacht"

Helene Schneider kann das Kapitel "Fonds" nun endlich abschließen. Anfang des Jahres, nach fast vier Jahren Wartezeit, hat sie endlich die letzte Zahlung  erhalten. Das Warten war für sie aber eine Qual: "Im Nachhinein hätte ich es besser nicht gemacht."

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 16.03.2021 | 21:35 Uhr

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