Der 13-jährige Hamburger Schüler vor einem Laptop. © NDR/ARD

Homeschooling: Das Ende der Chancengleichheit

Stand: 23.04.2020 13:08 Uhr

In der Coronakrise soll der Unterricht digital funktionieren. Doch nicht jede Familie kann sich einfach einen Laptop leisten. Chancengleichheit wird so nicht gewahrt.

von Jonas Schreijäg, Birgit Wärnke

Jana will unbedingt zur Polizei. Und eigentlich stehen die Chancen der 16-Jährigen auf den Ausbildungsplatz nicht schlecht. Doch vorher muss sie erstmal ihren Schulabschluss schaffen. Im Mai stehen in ihrer Stadtteilschule in Hamburg-Dulsberg die Prüfungen an. Doch seit der Coronakrise ist nichts mehr wie es war, in Hamburg sind Schulen seit den Frühjahrsferien geschlossen. Seit zwei Monaten war Jana nicht mehr in der Schule. Dabei bräuchte sie den Unterricht zur Prüfungsvorbereitung. "Es ist nicht so optimal, von zu Hause alles selbst vorzubereiten", sagt sie.

VIDEO: Homeschooling: Das Ende der Chancengleichheit (9 Min)

Digitaler Unterricht: Wie soll das gehen ohne Laptop?

Nach der Schulschließung musste auf einen Schlag der komplette Unterricht digital funktionieren. Das stellte nicht nur Lehrer vor eine Herausforderung, sondern auch viele Familien. Jana hat keinen Laptop, der alte Rechner ihres Vaters funktioniert nicht. "Es ist halt finanziell nicht so leicht für meine Familie, mir jetzt einfach so einen teuren Laptop zu holen, womit ich dann meine Schularbeit machen kann", erzählt sie.

Für den Lernerfolg der Schüler ist der Zugang zu einem eigenen Computer in der aktuellen Krise enorm wichtig geworden. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Der Studie zufolge gibt es zwar in fast 90 Prozent der Familien digitale Endgeräte, aber vor allem bildungsferne Familien, Geringverdiener und Familien mit Migrationshintergrund stehen deutlich schlechter da. Und: Deutlich weniger als die Hälfte der befragten 12- bis 14-Jährigen hat alleinigen Zugriff auf einen PC oder Laptop. Diese Kinder sind jetzt besonders benachteiligt.

Die Hamburger Schülerin Jana fotografiert ihre handgeschriebenen Arbeiten mit dem Handy um sie an ihre Lehrerin zu schicken. © NDR/ARD
Mühsam: Jana muss ihre handgeschriebenen Arbeiten mit dem Handy abfotogafieren - und an ihre Lehrerin schicken.

Jana muss für den Deutschunterricht einen inneren Monolog schreiben. Während ihre Schulfreunde die Texte bequem tippen, schreibt sie den Text aufwändig per Hand. Ansetzen, durchstreichen, neu anfangen. Nach einer Stunde fotografiert sie den Text ab und schickt ihn mit dem Handy an ihre Lehrerin. "Wenn ich einen Laptop hätte, könnte ich die Sachen doppelt so schnell bearbeiten. Und dann hätte ich auch mehr Motivation oder mehr Lust, die Sachen zu machen", sagt Jana.

Führt der digitale Unterricht zu mehr sozialer Spaltung?

Janas Deutschlehrerin sieht das Problem: "Ohne Technik ist es in manchen Fächern schwierig, die Aufgaben angemessen zu machen", sagt Sandra Wendel. "Da sind wir teilweise auch als Lehrer schuld. Wir fordern jetzt Videos und PowerPoint-Präsentationen - aber das ist für einige gar nicht wirklich machbar." Das zeigt auch eine Online-Umfrage der Elternkammer Hamburg, an der über 20.000 Eltern teilnahmen. 18 Prozent gaben an, dass die von der Schule geforderte Technik der Familie Probleme bereite. Und das, obwohl an der Umfrage überdurchschnittliche viele bessergestellte und technikaffine Familien teilnahmen.

Schulstunden per Video-Anruf, Online-Lernplattformen: Das digitale Klassenzimmer ist eine schöne Idee - wenn es funktioniert. Denn die Corona-Krise hat auch offengelegt, wie lange viele Schulen und Kultusministerien die Digitalisierung verschlafen haben. Leihcomputer zum Beispiel gab es für Schülerinnen und Schüler wie Jana jahrelang nicht, erst jetzt sind erste Computer verteilt worden. Auch Jana soll nun noch ein Gerät bekommen - sechs Wochen nach Beginn der Schulschließung. Trotz Schwierigkeiten - Jana hat meist noch einen Weg gefunden, ihre Aufgaben zu machen. Aber nur, weil sie viel Zeit investiert - sie will unbedingt ihren Abschluss schaffen.

Sozial schwächere Schüler werden überfordert

Die Hamburger Lehrerin Sandra Weidel sitzt vor einem Laptop an ihrem Schreibtisch. © NDR/ARD
Sorgt sich um ihre schwächeren Schüler: Sandra Wendel.

Für andere sei es viel schlimmer, erzählt Lehrerin Sandra Wendel. Schüler hätten am Telefon geweint, vor allem die Jüngeren seien oft überfordert, ihren Alltag selbst zu strukturieren. "Manche erreicht man ein bis zwei Wochen gar nicht." Sandra Wendel hat Angst, dass einige Schüler komplett abgehängt werden. Diese Befürchtung untermauern auch erste Studien. Laut einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftungsagen 37 Prozent der Lehrer, dass sie mit "weniger als der Hälfte" oder sogar nur mit "sehr wenigen Schülerinnen und Schülern" regelmäßigen Kontakt haben. Die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass der digitale Unterricht vor allem für Schüler aus bildungsfernen Familien schwierig ist. Die Schulschließungen wirken sich demnach für die betroffenen Kinder "besonders negativ aus und können ihre Entwicklung in substanziellem Maße hemmen", schreiben die Studienautoren.

Lehrerin Sandra Wendel glaubt deshalb, dass mit dem digitalen Unterricht die soziale Spaltung noch befeuert wird. "Die Schüler, die zu Hause motivierte Eltern haben, die auch den ganzen Tag mit ihnen üben und einfach die nötige Technik haben, die sind jetzt deutlich im Vorteil gegenüber denen, die einfach sozial schwächer aufgestellt sind, bei denen sich die Eltern entweder nicht kümmern können oder wollen oder einfach überfordert sind." Jetzt in der Corona-Krise trete eines deutlich zu Tage: "Wenn es diesen Ort Schule nicht mehr gibt, ist einfach Bildungsgerechtigkeit nicht gesichert." Auch die Umfrage unter Hamburger Eltern zeigt: Die Nachteile, die durch Schulschließungen entstehen, sind ungleich verteilt. So fühlen sich die Eltern von Stadtteilschülern (eine Hamburger Form von Gesamtschulen) deutlicher stärker überfordert als die Eltern von Gymnasiasten. Schüler, die kurz vor dem mittleren Schulabschluss stehen, leiden durch den Fernunterricht demnach deutlich stärker als Abiturienten.

"An unserer Schule gibt es wenig Probleme"

Der 13-jährige Hamburger Schüler vor einem Laptop. © NDR/ARD
Dem 13-jährigen Ben bereitet das digitale Lernen im gut ausgestatteten Elternhaus wenig Probleme.

Denn während manche Schüler abgehängt werden, ist der plötzliche Digitalunterricht für andere sogar eine Chance. "Die Kinder sind begeistert von dieser Schulform, mit den digitalen Endgeräten etwas Sinnvolles machen zu können", erzählt etwa Michael Reinken. Seine Zwillingskinder gehen in die siebte Klasse eines Gymnasiums in Hamburg-Blankenese. Gerade hat Familie Reinken zwei neue Laptops für die beiden bestellt - zusätzlich zu dem Tablet, Laptop und Computer, die ohnehin schon im Haus sind. Der selbständige IT-Berater hat ohnehin eine schnelle Internetleitung zu Hause und jetzt viel Zeit, den Kindern beim Online-Unterricht zu helfen. "Da sind wir wirklich beschenkt", sagt Michael Reinken, "dadurch, dass ich sowohl die Infrastruktur hier zu Hause habe wie auch die Möglichkeit, meine Kinder dabei zu unterstützen." Sein Sohn Ben sieht in dem digitalen Unterricht "eine coole, lustige" Art des Lernens. "An unserer Schule gibt es wenig Probleme", sagt der 13-Jährige.

Das bestätigt auch der Schulleiter von Bens Gymnasium. "Ich hatte am Anfang Bedenken", sagt Christian Gefert. Man habe keine Erfahrung mit dieser Form des digitalen Unterrichts gehabt. "Aber es ist erstaunlich, wie die Schulgemeinschaft dieses neue Setting angenommen hat." Der Schulleiter ist sich bewusst, dass das auch mit der privilegierten Situation seiner Schülerschaft zusammenhängt. Ein Großteil der Schüler kommt aus bildungsnahen und finanziell abgesicherten Familien. Doch selbst wenn der digitale Unterricht an seiner Schule gut funktioniert - auch Gefert betont, wie wichtig die Schule als sozialer Ort bleibt. "Wir sehen einfach, dass die Unterstützung für junge Menschen sehr, sehr unterschiedlich ausfällt und dass die Schule ein Ort ist, an dem wir gegen die soziale Spaltung in dieser Stadt arbeiten können. Wenn wir das wie jetzt nicht mehr tun können, wird das fatal für unsere Gesellschaft."

Weitere Informationen
Eine Frau mit Maske und Brille © Screenshot

Corona: Erste Allgemeine Verunsicherung

Die Corona-Krise konfrontiert viele Menschen unserer Wohlstandsgesellschaft zum ersten Mal in ihrem Leben mit echten Existenzängsten: Alle sind gefährdet - und jeder ist eine Gefahr. mehr

Erntehelfer in der Coronakrise. © NDR/ARD

Die Ernte ist sicher - nur die Erntehelfer nicht

Eigentlich gelten für Erntehelfer in der Coronakrise strenge Regeln: zum Beispiel möglichst kleine Gruppen und keine Mehrbettzimmer. Doch die Vorgaben werden offenbar nicht immer eingehalten. mehr

Von der Coronakrise betroffene Selbstständige © Screenshot

Existenzen vernichtet: Die sozialen Opfer

Die Corona-Krise betrifft besonders Selbstständige, etwa Restaurantbesitzer, Einzelhändler und Kosmetiker. Deutschland droht eine große Pleitewelle. mehr

Homeschooling: Das Ende der Chancengleichheit

Der Panorama-Beitrag vom 23 April 2020 als PDF-Dokument zum Download. Download (63 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 23.04.2020 | 22:00 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr