Sendedatum: 19.07.2001 21:00 Uhr

Chaoten, Kämpfer, Kardinäle - Globalisierungsgegner in Genua

von Bericht: Diana Mongardo, Ariane Reimers

 

Einmal im Jahr treffen sich die mächtigsten Politiker der Welt - na und? Zum einen sehen sie sich sowieso ständig, zum anderen wird vom G8-Gipfel in Genua nicht mehr zu erwarten sein als von allen anderen Gipfeln davor. Und wenn das Treffen am Sonntag vorbei ist, gibt's vermutlich eine nichtssagende Erklärung. Das war's dann.

Aber dennoch: In Genua herrscht der Ausnahmezustand. Vor der Küste patrouillieren Kriegsschiffe, an Land wurden Boden-Luft-Raketen stationiert. Und in der Innenstadt eine vier Meter hohe Mauer mit Stahltoren aufgebaut. Als ob Italien sich auf einen schweren militärischen Angriff vorbereitet.

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Genua - am Tag vor dem G8-Treffen. Noch gibt es keinen Gipfelsturm, aber schon die erste Demonstration. Es geht dabei um die Rechte von Flüchtlingen, mit und ohne legale Papiere. Damit auch die Flüchtlinge selbst an der Demonstration teilnehmen können, soll es friedlich bleiben, so der Wille der Gipfelgegner. Die Strategie: Heute noch stillhalten, aber morgen soll gestürmt werden. Viele Demonstranten sind schon vor Tagen angereist, um Probleme an den Grenzen zu umgehen, so auch eine Gruppe aus Berlin.

Schon drei Tage zuvor stehen sie an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Die Ausweise werden eingesammelt. Gespanntes Warten. Der Bus muss geräumt werden. Alles wird durchsucht. Schließlich die Nachricht: Alle dürfen nach Italien, bis auf einen: ausgerechnet der Busfahrer. Er steht auf der schwarzen Liste, weil er schon in Göteborg dabei war. Ein Glück für die anderen, dass sie Ersatz eingeplant hatten.

Dann treffen sie glücklich in Genua ein. Die erste Anlaufstelle ist das Info- und Pressezentrum der Protestler, untergebracht in einer Grundschule. Dort ist die Schlafplatzbörse, es hängen Zettel über die Veranstaltungen, es gibt es eine kleine Einführung, welche Gruppen was planen, und dort ist auch der Sitz von Indymedia, dem Internetnetzwerk der Gipfelgegner.

Zwanzig Minuten Fußmarsch entfernt: der Zaun, der die Stadt teilt und die Menschen brutal ausgrenzt. Bis zu vier Meter hoch, ein Drahtgeflecht. Hinter dem Zaun die sogenannte rote Zone. Nur mit einem speziellen Ausweis darf man rein. Die Berliner sind entsetzt.

"Ja, meine erste Assoziation ist irgendwie die Berliner Mauer", sagt Martin. "Ich find's einfach nur krass. Also mir fehlen die Worte. Ich habe es mir davor nicht vorstellen können, so eine Mauer mitten durch die Stadt zu sehen und eine Stadt irgendwie in Ost und West aufzuteilen."

Wie diese Mauer überwunden werden kann, das ist das Hauptgesprächsthema unter den Gegendemonstranten. Eine Strategie hat die italienische Gruppe "Tute Bianche" entwickelt. Sie wollen gut gepanzert gegen den Zaun anrennen.

"Wir werden versuchen, die Sache fröhlich anzugehen, auch wenn unsere Situation nichts zum Lachen ist", sagt Luca Casarini von "Tute Bianche". "Schließlich müssen wir uns mit einer Armee auseinandersetzen, die perfekt ausgerüstet ist."

Dann führt Nicola Fratoianni den Kampfanzug der "Tute Bianche" vor. Er rüstet die "weiße Krieger" dafür, den Polizeiknüppeln und dem Tränengas zu begegnen.

"Das ist ein Schutz aus Schaumstoff, den man anziehen kann. Dieser Schutz hilft uns hoffentlich gegen die Schläge, die wir bekommen, weil wir uns nicht stoppen lassen, wenn die Polizei sagt: Ihr dürft nicht weitergehen."

Jeden Tag kommen mehr Demonstranten in Genua an. Sie übernachten in den Stadien und den Parks der Stadt.

Die Berliner haben ein Plätzchen ganz nah am Meer ergattert. Insgesamt wohnen einige Hundert hier, auch viele Deutsche. Sie sind überrascht, wie positiv die Bevölkerung die Demonstranten empfängt.

"Das sind so Kleinigkeiten",erzählt Martin. "Wenn ich ein Eis kaufen gehe und sich der Verkäufer total freut, dass wir da sind, und mit uns freudig redet und Scherzchen macht und zum Abschied uns die Faust noch zeigt. Ich weiß nicht, das merkt man einfach - oder beim Obstkaufen, wenn wir dann noch ein Obst dazu geschenkt bekommen oder so, das sind einfach so kleine Taten irgendwie."

Solidarität und Sympathie. In Genua gibt es eine ungewöhnliche Allianz der Gipfel-Gegner. Sogar der Hochadel, die Familie der Doria Pamphili, ist gegen G8. Statt den Präsidenten wollten sie ihren Palast den Protestlern überlassen.

Gesine Doria Pamphili erzählt, woran dieser Plan gescheitert ist: "Leider hat die Polizei uns das verweigert, weil in ihren Augen einige Gegendemonstranten Probleme auslösen könnten. Deswegen haben wir keine Genehmigung bekommen. An diesem Punkt haben wir uns dann entschieden, den Palast zuzumachen und wegzugehen."

Und auch die katholische Kirche kritisiert den Gipfel. Zum Beispiel der Priester Don Andrea Gallo: "In der Demokratie gibt es keine rote oder gelbe Zone. Ich habe mich entschieden, zusammen mit den Globalisierungsgegnern zu gehen. Ich will mich von ihnen anstecken lassen, um dieses neue Gefühl von Freiheit kennenzulernen."

Die unterschiedlichsten Globalisierungsgegner haben doch eine gemeinsame Forderung: Kampf der Armut und Neuverteilung des Reichtums dieser Welt.

Jan fasst zusammen: "Wir wehren uns gegen eine Globalisierung, die Menschen einschließt und Kapital freien Lauf läßt. Also wir wehren uns gegen Globalisierung, die bedeutet, dass Menschen in Afrika oder Menschen, die irgendwo durch die Verhältnisse verfolgt, unterdrückt oder auch einfach nichts zu Essen haben, dass sie nicht an dem Wohlstand, der in anderen Ländern ist, beteiligt werden können."

Immer wieder durchsucht die Polizei Stadien, Parks und die sozialen Zentren. Leute werden festgenommen. Zwei Deutsche wurden auf der Wache sogar geschlagen, sagen sie. Einer davon war Michael: "Ich hab' wiederholt nach einem Anwalt gefragt, das ist damit beantwortet worden, dass von hinter einer mich knallhart ins Gesicht geschlagen hat, mit der Faust, dass meine Lippe aufgesprungen ist, dass ich Kopfweh gekriegt hab'."

Die Vorbereitungen laufen trotzdem. Die Demonstranten trainieren die Konfrontation mit der Polizei, beraten die Taktik. Martin erläutert: "Ich denke, das Ziel des Protestes ist jetzt erst mal ganz praktisch, in die rote Zone einzudringen am Freitag, am 20. und 21. vielleicht auch noch. Und diese vermeintlich unangreifbare Zone, in der die G8 sind, zu stören oder öffentlich den Raum für uns einzunehmen."

Viele sagen sich, wenn sie das arrogante Symbol der Macht, den Zaun, erst einmal überwunden haben, dann ist alles möglich.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 19.07.2001 | 21:00 Uhr

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