Aufruhr im Wendland - Die Schlacht um den Castor
Es ist vollbracht, die teuerste deutsche Zugreise ist zu Ende. Wohl kaum ein Transport wurde mit so viel Vorbereitung, Aufmerksamkeit und mit so viel Krawall und Karneval bedacht wie die Castor-Reise ins Wendland. Ob Hausfrau aus Regensburg, Kreuzberger Punk, Hamburger Lehrer oder Landwirt aus Schleswig-Holstein - man wusste sich eins im Protest. Wir sind das Volk und dagegen.
Die Kavallerie als Vorhut für den Castor. 7 Uhr 30 in Gorleben. Nur wenige Bürger sind früh genug aufgestanden, um den Einzug der Polizei zu bestaunen. Fast wie eine Parade. Eine Stunde und zwanzig Minuten dauert heute der Transport von Dannenberg ins Zwischenlager. So schnell und ungestört ging das noch nie. Fast vergessen die Krawalle der letzten Tage. So ein Castor ist für manchen Beamten auch mal eine nette Abwechslung.
Polizist: "Sonst machen wir normal Schichtdienst, sind froh, wenn wir rauskommen und so was mal mitmachen."
Der Castor kommt, der Hund muss trotzdem Gassi gehen. Und eine Castor-Gegnerin will gerade gemütlich Brötchen holen. Jetzt erlebt auch diese Frau eine Straßenblockade, diesmal von der Staatsmacht: "Also, das kann doch wohl nicht wahr sein."
Am Ende kommt es, wie es immer kommt. Der Castor rollt ins Zwischenlager. Einige Demonstranten hatten noch bis zum Schluss versucht, den Transport aufzuhalten. Sie fühlen sich als Verlierer.
Ein Demonstrant: "Ich bin halt enttäuscht, dass so viele Polizisten einfach anscheinend nicht ihren Mund aufmachen können und sagen: Wir spielen da nicht mit, lass diese Atomindustrie ihren eigenen Müll transportieren, wir haben keine Lust."
Es begann wie auf einem Abenteuerspielplatz. Sonntag im Wendland. Die Demonstranten des Camps Wendisch-Evern üben den Ernstfall. Wegtragen ist wohl doch nicht so einfach, aber das Gruppenerlebnis wird als sinnvoll empfunden.
Demonstrantin: "Ich find‘, das macht total viel Spaß, weil alle Leute sind total motiviert, werden dadurch noch motivierter. Wir kriegen Mut alle miteinander und Solidarität, und eigentlich, glaube ich, ist das viel besser, dieses Training zu machen und dann auf die Schienen zu gehen, als wenn wir uns nicht kennen würden und nichts von dieser Solidarität erleben würden."
Am nächsten Tag: In einem Waldstück bei Tollendorf hat die Polizei einige Demonstranten eingekesselt. Den Demonstranten gelingt der Gegenschlag. Ringelpiez mit Anfassen. Was das soll, muss den Polizisten erst erklärt werden.
Demonstrant: "Wir nehmen unser Grundrecht für Versammlungs- und Meinungsfreiheit wahr.
Polizist: "Das wollen wir Ihnen ja auch gewähren."
Demonstrant: "Ja, da müssen Sie uns schützen und uns nicht behindern."
Polizist: "Wer behindert Sie denn?"
Demonstrant: "Ja, Sie."
Der Gruppe des Camps Wendisch-Evern ist unterdessen der Durchbruch gelungen. Sit-in zwischen den Schienen. Das Üben hat sich gelohnt.
Solange alles ruhig ist, gibt es eben auch ein paar schöne Seiten am Demonstrantenleben.
Demonstrant: "Ja, dass Essen kommt, dass unsere Strohsäcke kommen, dass wir also ein Camp haben, was wunderbar funktioniert, dass wir hier singen können, dass wir natürlich auch eine gewisse Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit einfach jetzt mal ausnutzen können und dass wir also dort Volleyball spielen und ums Feuer sitzen und eigentlich alles, was zum Leben dazugehört."
Demonstrantin: "Also ich finde, dass es auch - das ist auch mit Erfüllung verbunden, so’n Leben. Ich hätte ja auch berufstätig sein können, das hab‘ ich aber gelassen."
Doch es endet, wie es immer endet: in den Armen der Polizei. Trotzdem: Am Abend ist die Stimmung noch recht gut. Das Kindercamp der Gorleben-Aktivisten. Hier haben die Veteranen Station genommen, die der Welt bereits die nächste Generation von Castor-Gegnern geschenkt haben. Letzte Dehnübungen für den Körper und Sinnsuche für den Geist.
Demonstrant: "Ich bin kurz davor, richtig rauszufinden, was ich will. Aber ich bin jetzt 33, ich hab‘, ja, schlappe 15 Jahre hab‘ ich hinter mir, in denen ich am Suchen bin."
Am nächsten Tag wissen alle, was sie wollen. Mit klarer Frontstellung: Die Demonstranten wollen die Linien durchbrechen, die Staatsgewalt versucht, das zu verhindern, mit allen Mitteln. Und trotzdem gelingt es den Castor-Gegnern, das Gleis zu stürmen. Ein Etappensieg, auch wenn nachher die Knochen schmerzen. Und dass sie schließlich weggetragen werden, gehört zum Ritual. In der Nacht am Bahndamm vor Dannenberg: Alle warten auf den Castor, jetzt ist langsam Schluss mit Lustig.
Vermummter: "Also, das ist kurz vor der Revolution hier, das dauert nicht mehr lange, dass es gleich ganz doll knallt."
Panorama: "Inwiefern?"
Vermummter: "Kann ich Ihnen nicht sagen."
Doch die Revolution wird an diesem Abend schlicht und einfach weggespritzt. Nun steht es unentschieden im Kampf um den Castor. Dann ein Volltreffer: Die Bewegung hat ihr Sondereinsatzkommando im Schutz der Dunkelheit an die Front geschickt. Jetzt liegen vier Robin-Wood-Aktivisten einbetoniert auf dem Gleis. Sieg auf der ganzen Linie. Der Kampf um den Castor schenkt Deutschland eine neue Heldin. Die Jeanne d’Arc der Atomkraftgegner heißt Marie und ist erst 16 Jahre alt. Die Polizei rettet Marie schließlich aus ihrer misslichen Lage. Der Weg ins Krankenhaus - ein Triumphzug. Die Aktion hätte Marie den Arm kosten können. Aber dafür fährt der Castor mit Verspätung in den Umladebahnhof. Die Demonstranten feiern das, als wäre ein Atomkraftwerk abgeschaltet: "28 Stunden für 50 Kilometer, das war doch was."
Heute Morgen auf dem Dannenberger Marktplatz. Der Morgen, an dem alles so schnell geht, viel zu schnell für die Castor-Gegner. Um 10 Uhr 30 war an sich ein Aufmarsch von großen und kleinen Demonstranten geplant. Das ist davon übrig geblieben.
Demonstrantin: "Man versucht miteinander Trost zu finden, damit man damit klarkommen kann. Aber das, das geht irgendwie unter in diesem ganzen, in diesem ganzen Polizeidruck, in dieser ganzen politischen Übermacht, dem ganzen politischen Gerede, was dahinten abgeht, das geht irgendwie unter."
In der Nähe von Gorleben steht man nach dem Finale noch ein Weilchen herum. Aber einige planen schon eine Art Rückspiel.
Demonstrant: "Eine kleine Spende für den nächsten Polizeieinsatz, hier die junge Kollegin."
Polizistin: "Können Sie gleich weitergeben."
Demonstrant: "Ach komm’, lass dich nicht lumpen. Hier, guck mal, von unserer Seite ist schon so viel Geld reingekommen. Guck mal rein hier, sogar Papiergeld, alles für euch, für den nächsten Polizeieinsatz. Und wer hat hier die gleiche Kleidergröße? Wir wollen Trikotwechsel machen diesem sportlichen Ereignis."
Stimmen zum Spiel auch im Wald, reichlich gehässig.
Demonstrant: "Immer weinerlicher, immer weinerlicher, ihr habt die besten Wasserwerfer, 16 Bar Druck oder so was, mit Lizenz zum Gasbeimischen und so weiter."
Polizist: "Aber jetzt darf ich Sie mal kurz unterbrechen?"
Demonstrant: "... die fittesten Helme, die Super-Funkausrüstung. Ihr seit die Größten, aber ihr werdet immer jauliger. Da sitzen dann Einsatzleiter, gestandenste Männer sitzen vor der Presse und sagen: Oh, und da wurden wir da beworfen. Ist ja witzig, wirklich zum Totlachen, ihr seid ja überhaupt nicht mehr sportive Jungs."
Bei der Polizei gibt’s zur Belohnung für den fixen Castor eine Extrawurst. Es ist die erste nach 26 Stunden Einsatz ohne Auswechslung. Dann ist alles vorbei, der Kampf um den Castor 2001. Die Polizisten fahren heim. Die Demonstranten sind weg. Das Problem bleibt.
