Sendedatum: 18.05.2000 21:00 Uhr

Quotenjagd im Dschungel - Der Medienkrieg um die Geiseln

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Da liegt eine Frau am Boden, sie zittert am ganzen Körper, sie hat Angst. Ihr Mann hält sie in den Armen. Er versucht, ihr Wasser einzuflößen. Sie weint. Und die ganze Welt sieht zu. Das Fernsehen bringt uns die Geiselnahme auf den Philippinen, das Leiden vor allem der deutschen Gefangenen sehr nah, seit heute auch in Interviews. Die voyeuristische Ader, die Lust am Zuschauen in jedem von uns wird gekonnt befriedigt, eine Entführung, vielfach als Unterhaltung, als Soap präsentiert. Die Fernsehbilder, die Interviews, die französische Journalisten vor wenigen Tagen drehten, zeigten es dann ganz deutlich: Einige Medien machen sich zum Teil der Inszenierung, genaugenommen zum Teil des Geschehens. Denn die Entführer bedienen sich mancher Berichterstatter, um ihre Forderungen durchzusetzen. Die Medienhoheit also in der Hand von Verbrechern. So einige Journalisten sind zu Nachrichtenhändlern geworden, zu Jägern, die es weder mit der Wahrheit immer so genau nehmen, noch sich um das Leben der Geiseln scheren. Und das internationale Krisenmanagement wird durch Falschmeldungen und durch verantwortungslose Reporter immer schwieriger.

VIDEO: Geiseln und Journalisten (7 Min)

KOMMENTAR:

Das hat es nach Gladbeck nicht wieder gegeben. Das Leid der Geiseln ganz nah auf allen Bildschirmen. Das Drama der Entführung in allen Wohnzimmern, jeden Tag.

Verena Nowottny von Control Risks berät in Entführungsfällen, ihre Firma hilft bei der Befreiung von Geiseln. Die Bilder aus den Philippinen, das ist nicht nur einfach Berichterstattung, sagt sie, sondern knallharte Verhandlungsstrategie der Entführer.

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VERENA NOWOTTNY:

(Beraterfirma "Control Risks" Deutschland)

"Es werden gezielt einzelne Journalisten vorgelassen, besonders mit Geiseln, die in einem sehr schlechten Zustand sind wie etwa die Frau Wallert, konfrontiert. Diese Bilder gehen um die Welt und lösen natürlich sehr, sehr starke Gefühle aus."

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LUDGER VOLMER:

(Staatsminister Auswärtiges Amt)

"Durch diese Form der Berichterstattung wird eine politische Lösung eher behindert. Wir stellen fest, dass die Geiselnehmer nun merken, dass die Geiseln einen hohen internationalen Marktwert haben, treiben ihre Forderungen immer höher. Gleichzeitig benutzen sie die Medien, um ihre eigenen Anliegen weltweit zu inszenieren. Und damit bestimmen sie das Gesetz des Handelns."

KOMMENTAR:

Denn die Botschaft ist klar: Dieses Leid muss ein Ende haben, egal um welchen Preis. Je schrecklicher die Bilder, desto höher das erreichbare Lösegeld. Und nebenbei hält Commander Robot Fernsehansprachen, kann seine Forderungen in alle Welt senden.

Sie alle wollen möglichst authentisch berichten, aber zwangsläufig werden viele zum Sprachrohr. Pressetrubel beim Haus des Gouverneurs auf Jolo. Hier haben die Journalisten ihr Basiscamp - die Zeltstadt von Geisel-TV. Viele Bedenken kann man sich hier nicht leisten. Der Druck der Redaktionen zu Haus ist größer geworden, seit es die ersten Geiselbilder gab. Jeder hier weiß, der scoop ist möglich - das frische Interview aus dem Geiselcamp.

Auch an der Heimatfront: Konkurrieren um das rührendste Bild. Alle wollen die Angst und die Sorge des nächsten Angehörigen. Der zweite Wohn der Wallerts ist in Göttingen geblieben.

Einer hat gewonnen, mit Geld und Exklusiv-Vertrag, SAT.1. Für den Sender schaut der Sohn Dirk Wallert Geisel-Videos. Emotionen pur, mit getragener Stimme kommentiert.

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SAT.1-Sendung "blitz"

"..... ausgehungert, durstig, voller Angst in den Händen von Rebellen. Dirk Wallert weiß, er ist machtlos, er kann nur hoffen."

KOMMENTAR:

Ein anderes Mal liest er öffentlich einen Brief von seiner Mutter - und immer mit dem Logo "exklusiv".

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DIRK WALLERT:

"Lieber Dirk, hab` keine Angst, wir werden uns wiedersehen, man hat es uns versprochen. Bitte grüß` alle ganz lieb von mir. Ich muss Pillen schlucken, Blutdruck ist zu hoch. Tschüß. Mama."

KOMMENTAR:

Wozu solch bizarre Exklusivität führen kann, hat man hier bei der Deutschen Welle erlebt. Die Deutsche Welle, das Auslandsfernsehen, berichtet ständig über die Geiselnahme. Und: der Sender ist sogar auf den Philippinen zu sehen. Deshalb bot die Deutsche Welle dem Sohn Dirk Wallert an, einen Appell an die Geiselnehmer zu richten. Das Hilfsangebot wurde zunächst ausgeschlagen.

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CHRISTOPHER LANZ:

(Chefredakteur "Deutsche Welle-TV")

"Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn Sie jemanden anrufen oder jemand wird angerufen, und Sie wollen ihm die Möglichkeit geben, seinen Eltern zu helfen, und er sagt: Ich kann nicht. Das ist schon eine komische Situation, weil eigentlich denkt man, das Oberste ist doch, dass man seinen Familienangehörigen hilft."

INTERVIEWER:

"Und wie hat er dann reagiert, Herr Wallert?"

CHRISTOPHER LANZ:

"Er hat einen Vertrag mit SAT.1. Es war ein kurzes Telefongespräch. Auf Grund seiner vertraglichen Bindung an SAT.1 sieht er sich nicht in der Lage, das zu machen."

KOMMENTAR:

Erst als der Vertragspartner SAT.1 zustimmt, kann der Appell an die Entführer bei der Deutschen Welle ausgestrahlt werden.

Die exklusive Geschichte rund um Dirk Wallert beschert SAT.1 hohe Quoten, dem Sohn ein nettes Honorar, Höhe unbekannt.

Das Leiden der Geiseln, das ist auch der Stoff für BILD. Wie lange hält Frau Wallert durch. Eine Geisel ist schwanger, die andere verliebt, ausgerechnet in den Deutschen. So wird das Elend der Geiseln zur täglichen Seifenoper, mit Anleihen aus dem Baukasten des Horrorfilms.

Der Geschichtenhunger in der fernen Heimat ist groß. Das Futter liefern sie, die Quotenjäger im Dschungel, hier in der Warteschleife. Gewinner ist, wer ins Geiselcamp kommt und das Material verkaufen kann.

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MELVYN CALDERON: (Übersetzung)

(Fotograf "Der Spiegel")

"Es geht hier mittlerweile wie auf einem Basar zu. Eigentlich geht es um eine Entführung, jetzt ist es so, als würde mit Teppichen gehandelt. Eine Schande, dass das in meinem Land passiert."

KOMMENTAR:

Dann am vergangenen Samstag. Ein französisches Team setzt sich ab in Richtung Geiselcamp, trotz aller Warnungen. Der Kontakt läuft über Mittelsmänner. Schnell ist ein Jeep organisiert. An einer verabredeten Stelle holt ein Mitglied der Abu Sayaf sie ab. Dann müssen sie noch eine Stunde durch den Dschungel laufen, bis das Ziel erreicht ist.

Zwei Tage waren sie verschwunden, die ganze Welt sorgte sich. Aber egal, der Trip in den Dschungel hat sich für ihn gelohnt. Jetzt sind sie wieder da - mit fetter Beute und durchaus mit sich zufrieden.

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MICHEL SCOT: (Übersetzung)

(Reporter "TF 1")

"Natürlich ist unser Job, das Äußerste zu versuchen, und das war eben, die Geiseln zu finden, auch wenn es schwierig ist. Wir haben das geschafft, wir haben uns nun selber einen Eindruck gemacht. Das ist professionell."

KOMMENTAR:

Aber welche Aussagekraft hat so ein Besuch? Das sind die Bilder von TF 1. Hinter den Geiseln stehen die Gangster mit Maschinengewehren. Ob die beiden unter diesem Druck wirklich frei reden weiß niemand.

0-Töne

"Die Hose hat er von denen."

"Für die Presse", sagt er.

"Nein", erwidert sie, "das glaube ich nicht. Einige von denen sind sehr freundlich."

KOMMENTAR:

Ein weiteres Kamerateam zeigt Entführer, die ihren Opfern Cola spendieren. Heile Welt vor der Kamera, dabei gibt es andere Zitate von Geiseln, die von Demütigungen sprechen. Über die Wahrheit im Camp sagen diese Bilder nichts, und gleichzeitig lastet ein böser Verdacht auf ihnen. Die Journalisten bestreiten es zwar, das Auswärtige Amt ist sich sicher.

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LUDGER VOLLMER:

(Staatsminister Auswärtiges Amt)

"Es kostet 15.000 Dollar für einen Journalisten, ins Lager zu kommen, rumgeführt zu werden und die Geiseln besuchen zu dürfen. Das empfinden die Geiselnehmer natürlich als sehr willkommene Einnahmequelle, und solange diese Form der Berichterstattung weitergeht, wird das Geiseldrama nicht beendet werden können."

KOMMENTAR:

Viele Journalisten sehen das anders. Ihre Berichte aus dem Lager würden die Geiseln schützen, sie davor bewahren, in Vergessenheit zu geraten. Vielleicht hoffen das auch die Geiseln, aber manchmal, so scheint es, finden sie das Spektakel unwürdig: den täglichen Elendsreport vor laufender Kamera.

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WERNER WALLERT: (Übersetzung)

"Meine Frau kann nicht einmal laufen, aber das will ich nicht zeigen. Das ist keine Medien-Show."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Nur zur Klarstellung: Es geht nicht um die Frage, ob über eine Entführung berichtet wird - natürlich. Es geht nur um die Frage, wie das zu geschehen hat.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 18.05.2000 | 21:00 Uhr

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